Am 11. Mai 2023 von 19 bis 21 Uhr hat der Arbeitskreis eine Fachdiskussion zur Versorgungssituation von älteren Menschen in der ambulanter Psychotherapie in Berlin veranstaltet.
Die psychotherapeutische Arbeit mit älteren Menschen findet in verschiedenen Setting, unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen ABER weiterhin viel seltener als bei jüngeren Menschen statt.
Im Orgateam entstand die Ideen die Veranstaltung mit einem Fallbeispiel zu eröffnen. In Vorbereitung darauf wurde deutlich, dass die Arbeit mit älteren Menschen sehr heterogen ist.
Psychotherapie mit älteren Menschen bedeutet...
…die Bearbeitung und Begleitung in der Bewältigung eines familiären Konflikts, der durch die Erkrankung eines Elternpaares mit den Kinder wieder aufgeflammt ist. Die vielschichtigen Familienbeziehungen (müssen) sich adaptiv über die Jahre verändern und neuen Rollenerwartungen und Lebensrealitäten anpassen. Besonders ist die Anpassung herausgefordert, wenn rasche und unvorhergesehene Veränderungen eintreten wie eine schwere körperliche Erkrankung mit Pflegebedürftigkeit.
…intensive Arbeit am Selbstbild und selbstbezogenen handlungsleitenden Kognitionen, wenn ein älterer Menschen aufgrund seiner Persönlichkeit sich bisher stark über Leistung und Funktionalität definiert hat. Die altersbezogene Veränderungen führen im Verlauf zu einer immer größere Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und der Realität, was in Ermangelung flexibler Anpassungsmöglichkeiten psychische Symptome zur Folge hat.
…die Behandlung einer reaktiven depressiven Symptomatik, die sich in Folge des Verlustes des Partners einstellt. Vor allem wenn dieser für einen Menschen die einzige Bezugsperson darstellte und nun aufgrund von Kompetenzdefizite und mangelnden sozialen Kontakten der Halt im Leben verloren geht.
…die Aufarbeitung eines Suizidversuchs, der in Folge einer Diagnosestellung einer schweren körperlichen Erkrankungen umgesetzt wurde. Danach fehlt eine Lebensperspektive und der abwehrende, weil nicht gelernte Umgang mit unangenehmen Gefühlen macht es schwer sinngebende Aktivitäten und Alltagsgestaltung wieder zu etablieren.
….die Stabilisierung im Rahmen einer Episode einer chronischen psychische Erkrankung, die Zeit des Lebens bestand. Sie wurde im Lebensablauf überwiegend selbstständig bewältigt, manchmal findet im Alter die erste psychotherapeutische Behandlung statt. In Folge von körperlichen Verletzung z.B. eine Gehbehinderung oder eine Herzinsuffizienz stehen vielleicht bisherige Bewältigungsstrategien nicht mehr zur Verfügung.
…die Behandlung von Ängsten, die in körperlichen Erkrankungen z.B. einem Herzinfarkt oder einem Sturzerleben mit Oberschenkelhalsbruch ihren Anlass finden, im Verlauf jedoch den Alltag und die Aktivitäten stärker einschränken als die körperliche Symptome und sich zu einer Krankheitsentität entwickeln.
Man kann somit feststellen: DIE Arbeit mit den älteren Menschen gibt es nicht.
Doch warum besteht weiterhin in der psychotherapeutischen Versorgung älterer Menschen ein „treatment gap“? Wie hat sich diese Lücke in der Versorgung in Berlin in den letzten Jahren entwickelt?
In einem Vortrag von Herr Prof. Dr. Meinolf Peters (Dipl. Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Supervisor) aus Marburg sind wir bei Veranstaltung diesen Fragen auf den Grund gegangen. Als Geschäftsführer des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie unterstützt Herr Peters durch das Angebot eines spezialisierten Fortbildungscurriculum aktiv die Versorgung älterer Menschen.
Bezugnehmend auf eine Erhebung des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie und der Psychotherapeutenkammer Berlin aus dem Jahr 2012 fand im Herbst 2022 eine erneute Befragung niedergelassener approbierter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten statt. Mit einer Rücklaufquote von 22,7% konnten ca. 947 Antworten Berücksichtigung finden.
Insgesamt zeigt sich im Vergleich zum Jahr 2012 eine Zunahme des Anteils älterer Menschen in der ambulanten Psychotherapie über alle Altersgruppe und beide Geschlechter hinweg. Weiter nehmen deutlich weniger Hochaltrige (<80) und Männer die ambulante Psychotherapie in Anspruch.
Vertiefend wurde von Herr Peters in seinem Vortrag zudem Fragen der Bedeutung von Geschlecht und Alter in der therapeutischen Dyade thematisiert. Dabei zeigt sich, dass sich Altershomogenität positiv auf therapeutische Stile und das Erleben von klinischer Wirksamkeit auswirkt.
Es besteht berechtigte Hoffnung, dass durch den Kohortenwandel und die voranschreitende demographische Entwicklung die Inanspruchnahme von Psychotherapie durch ältere Menschen weiter zunimmt. Vor allem in den am stärksten unterversorgter Gruppen wie Hochaltrige, Pflegebedürftige und ältere Männer wäre dies wünschenswert.
Auf diese Inanspruchnahme ist das ambulante und stationäre Versorgungssystem nicht ausreichend vorbereitet. Hier sind v.a. fehlende spezialisierte Angebote (hier v.a. aufsuchende Behandlungen) und unzureichende räumliche Möglichkeiten in den Praxen (Barrierefreiheit, bedarfsgerechte Einrichtung und Möbel) zu nennen. Darüber hinaus werden alterstherapeutische Kenntnisse noch nicht durchgängig in Aus- Fort- und Weiterbildung berücksichtigt, dadurch sind jüngere Therapeutinnen und Therapeuten auf die Arbeit mit älteren Menschen nicht gut vorbereitet und die Annahme der eigenen fehlenden Kompetenz und Kenntnisse stellt eine relevante Barriere in der Entscheidung für die Arbeit mit einem älteren Menschen dar.
Doch auch im Bereich stationärer und psychosomatischer Behandlungsangebote fehlen Konzepte und Einrichtungen für psychisch kranke hochaltrige Menschen mit somatischen Begleiterkrankungen und ggfs. Mobilitätseinschränkungen und Pflegebedarfen.
Abschließend fasst Herr Peters mit folgenden Worte die aktuelle Situation zusammen: „Die psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen stellt nicht nur ein gesundheits- und versorgungspolitisches Problem dar, sondern auch ein ethisches.“ (nach Höffe, 2002)
Um dem Behandlungsbedarf gerecht zu werden, lassen sich am Ende der Veranstaltung berechtigterweise folgende Forderungen formulieren (nach http://www.sich-das-alter-aneignen.de):
- An ältere Menschen - sie mögen ein realistischeres und positiveres Altersselbstbild entwickeln
- An Behandlerinnen und Behandler - sie mögen die Herausforderungen in der Arbeit mit älteren Menschen annehmen und sich das Wissen und Können aktiv aneignen
- An Institutionen und Kostenträger - sie mögen Konzepte und Angebote für die unterversorgte Zielgruppe entwickeln, zur Verfügung stellen und finanzieren.
Kontakt zum Arbeitskreis: michel@psychotherapeutenkammer-berlin.de