Mit Medienvertretern wurden zahlreiche Hintergrundgespräche geführt. Es gab viele Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge (z.B. bei Frontal 21) und Fachveran-staltungen zum Thema. Auf allen politischen Ebenen - Landesregierungen sowie Gesundheits-politische Sprecher/-innen der einzelnen Parteien - wurden Gespräche geführt. Der Vorstand und die Delegiertenversammlung der Psychotherapeutenkammer Berlin haben eine eigene
verabschiedet.
Was hat uns die kammerpolitische Lobbyarbeit bisher gebracht?
Am 3. August 2011 wurde der Entwurf für ein Versorgungsstrukturgesetz vom Bundeskabinett verabschiedet. Inzwischen wurde der Entwurf vom Bundesrat, Bundeskabinett und Bundestag diskutiert. Abschließende Beratungen im Gesundheitsausschuss und nochmals im Bundesrat stehen noch aus.
Für einen Moment sah es so aus, dass sich die breite und konsequente Presse- und Lobbyarbeit voll gelohnt hat. Die Bayerische Psychotherapeutenkammer hat über die Bayerische Landesregierung einen Änderungsantrag gestellt, der vom Bundesrat am 23. September positiv angenommen wurde (BR-Drs. 456/11). Der Bundesrat hatte mehrheitlich dafür plädiert, dass stichtagsbezogen zum 1. Januar 2012 die Verhältniszahlen alleine für die Arztgruppe der Psychotherapeuten neu berechnet werden sollten. Der Bundesrat begründete seinen Gegenentwurf mit den zu langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz und dass die psychotherapeutische Versorgung insgesamt verbessert werden müsse. Momentan liegen in Berlin die Wartezeiten für ein Erstgespräch in der ambulanten Psychotherapie nach einer Umfrage der BPtK bei durchschnittlich 8,4 Wochen.
Eine Woche später sprach sich das Bundeskabinett gegen eine Anpassung der Planungszahlen für die Arztgruppe der ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten sowie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten aus. Und in der letzten Beratung des Deutschen Bundestags am 19.10.2011 lehnt die Regierung einen zentralen Vorschlag der Länder zum Abbau von ärztlicher Überversorgung vor allem in Großstädten ab (17/7274). Dem Votum der Länder zufolge sollen Arztsitze in überversorgten Gebieten nur noch befristet vergeben werden. Mit dem geplanten Vorkaufsrecht der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) stehe ein wirksames Instrument zum Abbau der Überversorgung zur Verfügung. Als Seitenbemerkung: Der GKV-Spitzenverband hat bereits ein Gutachten zur Berechnung der Kosten für den Aufkauf von Praxen erstellen lassen (Prognos-Gutachten).
Jetzt droht bundesweit ein systematischer Abbau an Psychotherapieplätzen. Kammerpräsident Michael Krenz äußerte sich in der letzten Pressemitteilung der Psychotherapeutenkammer: "Das Gesetz zur ‚Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung’ (BR-Drs. 17/6906) wird ein Gesetz zur ‚Verschlechterung" psychotherapeutischer Versorgung’". Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung sieht einen Abbau an KV-Sitzen vor, der über einem Versorgungsgrad von 110% liegt. Momentan hat Berlin eine "rechnerische Überversorgung" von 158%. Das bedeutet, dass in Berlin 646 von 2113 KV-Sitzen von der Kassenärztlichen Vereinigung schrittweise aufgekauft werden sollen. Anders ausgedrückt: Wöchentlich entfallen rund 15 000 Therapiestunden. "Das bedeutet einen dramatischen Einschnitt für die psychotherapeutische Versorgung - die fehlenden Therapiemöglichkeiten können niemals durch andere Versorgungssysteme wie zum Beispiel durch Beratungsstellen oder Kliniken aufgefangen werden", so Krenz weiter.
Die Psychotherapeutenkammer Berlin wird alles daran setzen, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterhin für den Erhalt der KV-Sitze bzw. für eine morbiditätsgestützte Versorgung einzu-setzen. Die Psychotherapeutenkammern stehen mit ihrem Anspruch einer am tatsächlichen Bedarf orientierten Versorgung nicht alleine da. Die KV Hamburg beispielsweise führt bereits eine Protestaktion zum Abbau von Kassensitzen durch - Näheres unter: www.billigwirdteuer.de). Seitens der Ärzte werden Informationen an die Patienten gestreut "Ich hätte gern mehr Zeit für Sie!". Aber…
Andere Interessensgruppen engagieren sich mit kartengestützten Analysen zur Versorgungssi-tuation der einzelnen Regionen. Seit 28. September 2011 belegt das neue Internetportal der Bertelsmann-Stiftung "Faktencheck Gesundheit" (in Kooperation mit dem IGES Institut GmbH) regionale Unterschiede in der Ver-sorgung (bislang bezogen auf die psychiatrische Versorgung bei Kindern und Jugendlichen und Krankenhausfälle wegen Depressionen).
Wenige Tage später am 10. Oktober 2011 veröffentlichte das Zentralinstitut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Rahmen einer Fachtagung ihr Internetportal "Versorgungsatlas". Auch hier finden Interessierte Forschungsergebnisse und Analysen zu regionalen Besonderheiten und Unterschieden in den Strukturen, Abläufen und Ergebnissen der medizinischen Versorgung, die Anhaltspunkte für Möglichkeiten der Verbesserung der Versorgung bieten. Datenbasis sind vor allem die vertrags-ärztlichen Abrechnungsdaten. Zur psychotherapeutischen Versorgung liegen leider noch keine Auswertungen vor; diese sind sicherlich irgendwann geplant.
Psychotherapie ist notwendig und auch kosteneffizient
Die jüngsten Arbeitsunfähigkeitsberichte (AU-Berichte) und Fehlzeitenreports der Krankenkas-sen belegen einen Anstieg der psychischen Erkrankungen, insbesondere bei den Depressionen und den Angsterkrankungen. Entsprechend dem Fehlzeitenreport der AOK (WIdO 2011) beispielsweise rangieren psychische Erkrankungen auf Platz 4 aller Arbeitsunfähigkeitstage nach Muskel-/Skeletterkrankungen, akuten Verletzungen und Atemwegserkrankungen. Unter allen Arbeitsunfähigkeitstagen umfassten psychische Erkrankungen 9,3%. Im Vergleich zum Vorjahr sind die AU-Tage aufgrund psychischer Erkrankungen um 0,7 Prozentpunkte angestiegen. Seit 1994 ist bei den AU-Fällen ein Anstieg der psychischen Erkrankungen von mehr als 100%, bei den AU-Tagen um nahezu 90% zu verzeichnen. Ähnliche Befunde zeigen auch die Gesundheitsberichte anderer Krankenkassen. Eine Zusammenstellung speziell zu psychischen Erkrankungen finden Sie auf der Website der Bundespsychotherapeutenkammer.
Laut Krankenhausreport 2011 der Barmer GEK habe sich die Zahl der Menschen, die wegen psychischen Erkrankungen stationär im Krankenhaus behandelt werden, zwischen 1990 und 2010 um 129% erhöht und damit weit mehr als verdoppelt!!!! Dabei sollten mit dem neuen Ge-setz doch eigentlich Kosten eingespart werden.
Auch die Frühberentungen durch psychische Erkrankungen nehmen stark zu. So stand Mitte Oktober 2011 die Süddeutsche mit der Deutschen Rentenversicherung im Gespräch. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Hauptgrund für den unfreiwilligen Vorruhestand - und der kommt immer früher: Wer vor 30 Jahren vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden musste, war im Durchschnitt 56 Jahre alt. Heute sind vor allem diejenigen, die wegen seelischer Leiden aufhören, wesentlich jünger. Vorstandsmitglied Dr. Renate Degner nahm in der ARD-Tagesschau Stellung zum Thema.
Seit 2002 sind nach einer aktuellen Studie des Rheinisch Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) bei keiner anderen Krankheit die Behandlungskosten so sehr gestiegen wie bei psychischen Erkrankungen. Allein bei Depression beliefen sich die Kosten 2008 schon auf 5,2 Milliarden Euro. Durch Arbeitsausfall und Frühverrentung erhöhten sich diese Kosten noch einmal auf mehr als 20 Milliarden Euro.
Dass Psychotherapie kosteneffizient ist, zeigt eine von der Techniker Krankenkasse in Auftrag gegebene Studie "Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie". Demnach erbrachte die Psychotherapie "einen Nutzen zwischen 2 und 4 Euro pro investiertem Euro.
"Wenn der Bundestag nicht doch noch reagiert und die Versorgung am tatsächlichen und auch künftigen Bedarf anpasst, wird nicht nur das persönliche Leid der Therapiesuchenden verstärkt, sondern die Kürzung wird auch gesamtgesellschaftlich gesehen einen immensen ökonomischen Schaden nehmen", so Krenz abschließend. "Um eine Minimalversorgung zu gewährleisten, fordern wir mindestens eine Anpassung der Bedarfsplanungszahlen an die heutige Versorgungssituation (heutige Versorgung mit Stichtag zum 31.12.2011 = Soll-Zustand). Unseres Erachtens bräuchte die Bedarfsplanung eine viel weitergehende Reform, damit Psychotherapie flächendeckend und vorausschauend angeboten werden kann. Die Bedarfsplanung sollte sich an der Häufigkeit von Krankheiten in der Bevölkerung und an deren demografischen Strukturen orientieren. Und sie sollte prospektiv bzw. vorausschauend sein."
Ein Beitrag von:
Dr. Beate Locher
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 030 887140-13
Locher@psychotherapeutenkammer-berlin.de