Die Veranstaltung hat den ausführlichen Titel: "Selektivverträge/ Integrierte Versorgung - zur Analyse der Vor- und Nachteile für die PatientInnenversorgung und für die psychotherapeutische Praxis". Circa 100 Interessierte kamen in die FU um die Vorträge von Michael Krenz (Präsident der PTK Berlin), Rudi Bittner (Vorstand der DPtV Landesgruppe Bayern), Lothar Wittmann (PP und ehemaliger Präsident der PTK Niedersachsen) und Birgit Heinrich (Geschäftsführerin der PTK Rheinland-Pfalz) zu verfolgen und zu diskutieren.
Der Begriff "Neue Versorgungsformen" ist nicht mehr ganz so neu, er umfasst vielmehr verschiedene Formen übergreifender Versorgung. Dies bedeutet insbesondere für chronisch kranke und multimorbide Patienten eine praxis-, disziplinen- und sektorübergreifende Abstimmung der Leistungserbringer. In Selektivverträgen werden dabei die konkrete Art und Weise der Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen geregelt. Sie können in Konkurrenz zum Kollektivvertrag stehen oder diesen ergänzen (Add-On-Verträge). An dieser Grundkonstruktion wird schon deutlich, dass es dabei auch um viel Geld geht. Dies macht Herr Prof. Kuhr, Vorstandsmitglied der Kammer im Ausschuss, in einem Eingangszitat von Paul U. Unschuld sehr schön plastisch: "Sicher ist bereits jetzt die Verdrängung der ehemals zentralen Entscheidungsträger und patientennahen Berufsgruppen der Ärzte und Apotheker in Randpositionen. Diejenigen Sachverständigen, die bislang so ausgebildet wurden, ihre "Patienten" allein nach medizinisch-fachlichen und medizinisch-ethischen Kriterien zu behandeln, stören die Umwandlung von Gesundheit zur Ware, die nach industriellen Maßstäben vermarktet wird." (S. 126)
Frau Karameros, die Ausschusssprecherin, stellt die zentrale Leitfrage des Abends vor und führt durch die nachfolgende Diskussion: "Haben Neue Versorgungsformen mit ihren Selektivverträgen ihren Anspruch eingelöst, zu mehr Wettbewerb, Innovation und Effizienz im Gesundheitssystem beizutragen?" Dazu stellen die eingeladenen ReferentInnen verschiedene Möglichkeiten und Formen selektivvertraglicher Regelungen in Abgrenzung zum Kollektivvertrag dar und analysieren deren Wirkungsmechanismen auf die Patientenversorgung und die psychotherapeutische Praxis.
Michael Krenz definiert SV/IV-Verträge als "gesundheitspolitisch implementierte Möglichkeiten der Patientenversorgung, die in Konkurrenz und/oder komplementär zu anderen Formen der psychotherapeutischen Versorgung stehen können". Sie stellen einen zunehmend an Bedeutung gewinnenden Versorgungs- und damit auch Tätigkeitsbereich der PP und KJP dar. Insbesondere wird es um die Weiterentwicklung von patientenorientierten Versorgungspfaden und die Differenzierung und Modifizierung von psychotherapeutischen Verfahren gehen. In diesem Zusammenhang seien die Hauptaufgaben der Kammer:
- Beobachtung und Analyse der psychotherapeutischen Versorgungsrealität in Berlin im Hinblick auf Versorgungsprobleme
- Unterstützung und Beratung ihrer Mitglieder
- Sicherung und Überwachung der Qualitätsstandards von Psychotherapie gemeinsam mit den Berufs- und Fachverbänden der Profession.
Ganz im Sinne des Mottos "Da wo Psychotherapie draufsteht, muss auch Psychotherapie drin sein" werden die Qualitätsstandards von Psychotherapie die Grundlagen für mögliche Vertragsverhandlungen bzw. Prüfung von Verträgen, Förderung von Modellprojekten und Empfehlungen an die Mitglieder zur Mitarbeit sein. Mit Blick auf die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung der PatientInnen und die Stärkung der Profession werde die PTK Berlin die Diskussion um die Chancen und Risiken der Selektivverträge und den Kollektivvertrag weiterführen.
Im folgenden Vortrag referiert Rudi Bittner zur "Entwicklung der Neuen Versorgungsformen und Darstellung bestehender Vertragsmodelle". Er erläutert die schrittweise Entwicklung der aktuellen Wettbewerbsorientierung des deutschen Gesundheitssystems von der Gesundheitsreform 2000 über das GMG 2003/4 (Stichwort: Hausarztzentrierte Versorgung) und WSG 2007 (Stichwort: besondere ambulante Versorgung) bis zum Versorgungsstrukturgesetz 2012. Die wesentlichen Inhalte der entsprechenden Gesetze hat die Psychotherapeutenkammer Hamburg gut zusammengefasst. Neue Versorgungsformen - PTK Hamburg Bittner weist auf die Wortbedeutung eines Selektivvertrags für Behandler und die Patienten hin. "Selektieren" bedeutet auswählen/herausfiltern. Positiv daran sei, das die "Ausgewählten" besondere Beachtung für ihre Problemlagen fänden. Ob sie damit automatisch auch besser behandelt werden und wie sich dies auf die Arbeitsbedingungen der BehandlerInnen auswirkt bedarf der genauen Analyse. Außerdem muss auch genau beobachtet werden, welche Bedeutung die Auswahl der einen Gruppe für die nichtausgewählten anderen Behandlungsbedürftigen hat.
Rudi Bittner stellt einige Selektivverträge als Beispiele aus der Praxis kurz vor: Einen Vertrag der AOK von 2010 zur Versorgung der Kinder schwerkranker Patienten (z.B. Krebs, Depression), einen Vertrag zur Versorgung von Palliativpatienten und einen Vertrag der AOK Bayern zur Psychotherapie bei Älteren. Therapeuteninfo zum Projekt "Kind kranker Eltern"
Als viertes, komplexeres Beispiel erläutert er im Detail den AOK-BKK-Bosch Vertrag in Baden-Württemberg von 2011.AOK-Vertrag Aufnahmekriterium für Patienten in diesen Vertrag ist die vorherige Einschreibung in das vorhandene Hausarzt-Programm der beteiligten Kassen und eine Diagnose aus dem vereinbarten Indikationskatalog. Mit der Einschreibung verpflichten sich die Versicherten in den Fachgebieten, für die Module des AOK-FacharztProgramms bestehen, ausschließlich solche Fachärzte/ Psychotherapeuten auszuwählen, die an diesem FacharztProgramm teilnehmen. Der Vertrag stellt den Patienten einen besseren Datenaustausch zwischen den verschiedenen BehandlerInnen und kürzeren Wartezeiten in Aussicht. Entsprechend sind im Vertrag Verpflichtungen für teilnehmende PsychotherapeutInnen zur Form der Behandlung, der Vergütung und der Qualitätssicherung im Detail definiert und reglementiert.
Unter der Überschrift "Alles nur eine Frage der Perspektive" diskutiert Bittner kritisch Unterschiede von Kollektiv- und Selektivvertrag. Während "Add-On" Verträge zusätzlich zum Kollektivvertrag die Versorgung ergänzen, ziehen "Selektivverträge mit Bereinigung" Mittel aus dem Kollektivvertrag heraus. Ausgangslage für Krankenkassen ist der Wettbewerb, in dem Preis und Leistung zentrale Stellgrößen sind, um neben der Konkurrenz zu bestehen. Kollektiv- und Selektivvertrag unterscheiden sich aus dieser Perspektive nach Bittner im Wesentlichen nur in der Mengenregulierung bzw. Verteilung der Finanzmittel. Aus Sicht von Bittner profitieren von Selektivverträgen insbesondere Softwarehersteller, Managementgesellschaften, Anwaltskanzleien und Berater sowie viele Anbieter rund um den Gesundheitsbetrieb. Neue Rollen entstünden: Patienten als Kunden und Psychotherapeuten als Verkäufer. Für beide überwiegen aus Bittners Sicht die Nachteile: Für Psychotherapeuten steige die Abhängigkeit, sie seien bei Streitigkeiten um Vertragsbedingungen Einzelkämpfer, der bürokratische Aufwand vergrößere sich, die Vergütung werde undurchschaubarer und durch die zeitliche Befristung der meisten Selektivverträge zahle sich die vorausgesetzte Investition einer Praxis für die Teilnahme (Einschreibungsgebühr, Software, etc.) oft nicht aus. Es erfolge zudem ein ständiger Wettkampf zwischen den PsychotherapeutInnen im Rahmen eines so genannten Benchmarkings. Auch für den "Nachwuchs" entstünden durch Selektivverträge lediglich mäßige wirtschaftliche Chancen. Aus Patientenperspektive sei es schwer die verschiedenen Vertragsangebote zu durchschauen, freier Facharztzugang und freie Arztauswahl sei in vielen Verträgen nicht mehr gegeben. So entstehe eine Mehrklassenpsychotherapie, die im Gegensatz zur Versorgungsgerechtigkeit stehe. Ein Vorteil für Patienten sei hingegen die Verpflichtung der Krankenkassen zur Transparenz und ein schnellerer Zugang zur Versorgung. Abschließend plädierte Bittner dafür, Wettbewerb in der Psychotherapieversorgung nur mit vernünftigen Spielregeln einzuführen - die Entwicklung dieser Spielregeln sei eine zentrale Aufgabe für die Zukunft.
In einem weiteren Vortrag referiert Lothar Wittmann zu "Das große Rad, Minenhunde oder Chancen für die Profession?" Seine erste These lautet "Im Gesundheitswesen sind keine massiven bzw. sprunghaften Mittelzuwächse zu erwarten - ergo folgen Verteilungskämpfe um kleine Verschiebungen für größere Anteile!" Entsprechend die zweite These: "Veränderungen in der Gesundheitsversorgung kosten immer die einen Anteile und bringen den anderen Zuwächse". Er stellt zunächst einen niedersächsischen Versorgungsvertrag zur landesweiten ambulanten Versorgung von Patienten mit der Diagnose einer Schizophrenie auf den Prüfstand. Dieser Vertrag sei ein Bespiel für einen "Schnittstellenoptimierer" (Behandlungsketten/ case management, managed care). Wittmann bezeichnete diese Form als eine von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangstypen von IV-Verträgen. Der andere Typ sei die so genannte "Turboversorgung" mit Klientenbegünstigung, die gekennzeichnet sei durch Übernahme-Beschleunigung und Wartelistenumgehung, wobei Kombinationen von beiden z.B. in §§140er SGB V-Verträgen die Regel seien. Ein Motiv der Akteure, einen der beiden IV-Typen einzuführen, sei in der Regel ein durch die Kassen gesehenes Einsparpotential. Desweiteren problematisierte Wittmann ausführlich die Rolle des Pharmakonzerns Janssen-Cilag in diesem IV-Vertrag: Dieser beinhalte Intransparenz und Konkurrenzvorteile auf der Seite des Pharmakonzerns.
Als zweiten Vertrag nahm Wittmann den IV-Vertrag BKK, FTE, Rehazentren, DPtV Niedersachsen IV-Vertrag nach § 140a SGB V, genauer unter die Lupe, der Psychotherapeuten mit betrieblicher Gesundheitsförderung vernetzt. Dabei handelt es sich um einen Vertrag zur "Turboversorgung", der an einigen Standorten mittels ambulanter Rehazentren gezielt die Versorgung der VW-Beschäftigten sicherstellt und dazu auf Kooperation mit niedergelassenen PsychotherapeutInnen setzt. Kurzfristige Versorgung erfolgt bei drohender Minderung der Erwerbsfähigkeit. Wittmann führt aus, dass es sich hier um eine unterversorgte Region handele. Entsprechend gelte die Verdrängung anderer Patienten durch vertragsbedingte Priorisierung als problematisch. Nicht-zugelassene Therapeuten seien aus dem Vertrag ausgeschlossen. Ob das ambulante Rehazentrum seinem Anspruch einer neutralen Stelle gerecht werden könne, sei dahingestellt. Er fragt, ob es sich um eine Beschränkung der diagnostischen und therapeutischen Freiheit handele und ob die Mobilisierung Nicht-Motivierter ein sinnvolles Ziel sei.
Für die nachfolgende Diskussion stellt Wittmann weitere grundsätzliche Fragen: "Ist das Kollektivvertragssystem von uns/für uns noch zu retten? Ist die heutige gute/ ausreichende Versorgungsqualität vor Verschlechterung zu schützen - vor allem auf dem Land?" "Machen wir uns Illusionen in Bezug auf die Überwindung von Sektorengrenzen der Versorgung und die SGB-Grenzen? Versprechen wir KollegInnen, die nicht über den Kollektivvertrag abrechnen können (zum Beispiel PP und KJP in Institutionen) oder dem Nachwuchs zu viel?".
Birgit Heinrich ist Mitgründerin des Praxisnetzes "Netz für seelische Gesundheit Mainz e.V." und referiert zu "Vernetztes Arbeiten in Neuen Versorgungsformen - wie entwickelt sich das Netz für seelische Gesundheit Mainz e.V. unter den neuen gesetzlichen Vorgaben?" Als Einstieg stellt sie kurz die gesetzlichen Vorgaben im SGB V zu den unterschiedlichen Neuen Versorgungsformen vor. Beim Netz für seelische Gesundheit Mainz e.V. handelt es sich um Integrierte Versorgung gemäß §§ 140 a ff SGB V. In der oben vorgenommenen Klassifizierung handelt es sich hierbei um ein Schnittstellenoptimierungsprojekt. Zunächst entstand im Jahr 2000 das Netzwerk niedergelassener Psychiater, Psychotherapeuten und Vertreter des DPWV (Institutsambulanz und Tagesklinik) mit der Zielsetzung, die ambulante Versorgung im Raum Mainz durch sektorenübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. Konkrete Ziele waren interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener medizinischer Fachgruppen, die Kooperation mit Krankenhäusern, anderen Leistungserbringern und Sozialleistungsträgern sowie die Fortbildung der Mitglieder. Vertragspartner im IV-Projekt sind die TK Rheinland-Pfalz, der DPWV und niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten. Kriterien zur Behandlung sind eine schwere psychische Erkrankung (Primärdiagnose aus F 20- F 48.9), die eine Behandlung durch ein multiprofessionelles Team einer psychiatrischen Institutsambulanz/Tagesklinik erforderlich macht, TK Mitgliedschaft und Einschreibung in das IV-Projekt. Die beteiligten Behandler treffen sich regelmäßig zu Visiten und Fallkonferenzen und es erfolgt eine gemeinsame Dokumentation. Die Patienten kommen über einen Zuweiser zur Clearingstelle, die über die Teilnahme am Vertrag entscheidet. Es erfolgt einen Koordination und Umsetzung von Leistungen, die im Umfang abhängig vom Hilfebedarf sind. Die Zielerreichung wird durch den federführenden Behandler überprüft - bei Zielerreichung erfolgt die Entlassung und ein Bericht an den Zuweiser. 2009 wurde eine Genossenschaft gegründet, die als Vertragspartner der TK die gesamte Verwaltung durchführt. Die Vergütung ist pauschal geregelt und geht an die Genossenschaft, die die interne Verteilung vornimmt. Derzeit wir über eine Weiterentwicklung des IV-Vertrags und über einen weiteren Standort verhandelt. Im Abschlussplädoyer ermutigt Frau Heinrich die Berliner Psychotherapeutenschaft, sich in Sachen Neue Versorgungsformen auf den Weg zu machen und etwas zu wagen.
Zum Abschluss der Veranstaltung diskutiert das Podium Kriterien für KollegInnen zur Beteiligung oder Nicht-Beteiligung an Neuen Versorgungsformen bzw. zur Bewertung von einzelnen Verträgen. Als zentrale Kriterien werden die folgenden Punkte genannt:
- Regionalität und Durchschaubarkeit der Verträge
- Flexibilität der Verträge
- Rolle der Psychotherapeuten bei der Mitgestaltung
- Beitrag zur Versorgung
- Innovation in der psychotherapeutischen Versorgung
- Vernetzung mit anderen Professionen
Angesichts der vielen spannenden Vorträge reicht der Abend bei weitem nicht für die vielen offenen Fragen und Diskussionspunkte des Publikums. Das Thema muss deshalb unbedingt in weiteren Veranstaltungen vertieft werden. Bezüglich der Grundfrage des Ausschusses kann sicherlich die Antwort lauten: ja, die Selektivverträge haben zu mehr Wettbewerb geführt. Ob damit automatisch Innovation und Effizienz einhergehen und wer von diesem Wettbewerb profitiert, muss noch genauer analysiert und anhand genauer Verträge evaluiert werden.
Die Veranstaltungsreihe und weitere Berichte zum Thema werden im Online-Newsletter 2012 fortgesetzt.
Ein Beitrag von:
Dipl.-Psych. Karin Jeschke, Wissenschaftliche Referentin
Dipl.-Soz. Brigitte Kemper-Bürger, Geschäftsführerin