Epidemiologisch gesehen gilt derzeit jeder 5. ältere Mensch über 65 Jahre als psychisch erkrankt, das sind bundesweit fast 15 Millionen Menschen! Zumeist seien es Depressionen, aber auch Angststörungen, Demenz- und Sucht-Erkrankungen. Genauso wie in jüngeren Jahren gebe es dabei auch bei Älteren neben neu auftretenden Konflikten, traumabedingte, psychosomatische oder auch psychoneurotische Störungen aus der Vergangenheit. Dies spiegelt sich aber bisher nicht in den Behandlungszahlen wieder: Nicht mal ein Prozent der Patienten, die ambulant psychotherapeutisch behandelt werden, sind älter als 60 Jahre. Stattdessen aber bekomme jeder Vierte über 70-jährige Patient Psychopharmaka verschrieben - insbesondere in der Gruppe der älteren Frauen. Sieht man dieses Thema im Kontext zu der bestehenden Suchtproblematik, besteht akuter Handlungsbedarf, denn in Deutschland gibt es aktuell 1,2 Mio. Menschen, die von Beruhigungs- und Schlafmitteln abhängig sind. Der Anteil der von Alkohol Abhängigen ist noch nicht mitgerechnet.
Die Kammer setzt sich mit dem Thema "Psychotherapie bei Älteren" schon seit längerer Zeit auseinander und hat in Kooperation mit der Volkssolidarität deshalb ein neues Versorgungskonzept entwickelt. Dieses zukunftsweisende Projekt wurde im Rahmen der Veranstaltung vom Vorstandsmitglied Pilar Isaac-Candeias der Berliner Psychotherapeutenkammer vorgestellt und ausführlich erläutert: Es handelt sich um ein partizipatives Vorhaben: so werden die Bewohner, die Pflegenden, die Angehörigen, miteinbezogen und sind aktiv am Prozess beteiligt. Angedacht sind zwei Stellen, die mit erfahrenen Kollegen besetzt werden und welche möglichst über praktische Kenntnisse in der Arbeit mit alten Menschen verfügen. Wie in einer Psychotherapie ist der Prozessaufbau zunächst "fragend" und "suchend". So sollen in Workshops und Interviews zunächst Wünsche und Bedürfnisse der Teilnehmer herausgefunden und besprochen werden. Ziel ist dann die Verbesserung der psychischen Gesundheit und der Lebensqualität von Bewohnern und Mitarbeitern. Aus gemeindepsychologischer Sicht soll zudem der Frage nachgegangen werden, wie kann das Heim z. B. in die umliegende Gemeinde geöffnet werden. Das Modell ist auf drei Jahre konzipiert und soll wissenschaftlich evaluiert werden. Nach einer Finanzierung wird derzeit noch aktiv gesucht.
In der anschließenden Podiumsdiskussion zur psychischen Gesundheit Älterer in Berlin, an der u. a. auch die Staatssekretärin Emine Demirbüken-Wegner teilnahm, ging es um die Umsetzung des zu Beginn des Jahres eingeführten Versorgungsstrukturgesetzes. In diesem Zusammenhang wurde speziell auch über die vermeintliche Über- und Fehlversorgung an Psychotherapieplätzen in Berlin gesprochen.
Die Psychotherapeutenkammer - so Isaac-Candeias - befürchte, dass KV-Sitze für Psychotherapie insgesamt abgebaut oder von vermeintlich "überversorgten" Stadtgebieten wie Charlottenburg-Willmersdorf, Steglitz-Zehlendorf in psychotherapeutisch unterversorgte Stadtgebiete wie Hellersdorf-Marzahn verlegt werden könnten. Sie bemängelte zudem, dass die Senatsverwaltung die Psychotherapeutenkammer nicht ausreichend im neuen Landesgremium zur psychotherapeutischen Bedarfsplanung vertreten sei. Staatssekretärin Emine Demirbüken-Wegner widersprach Isaac-Candeias hinsichtlich der Verlegung von Sitzen. Es sei nicht geplant, Sitze von Charlottenburg nach Marzahn zu verlegen. Hinsichtlich der Einbeziehung der Kammer bei der Berliner Bedarfsplanung sei vorgesehen, die Kammer zu allen Fragen im neuen Landesgremium anzuhören. Die Staatssekretärin mahnte jedoch an, dass die Schnittstellen in der fach- und sektorübergreifenden Versorgung verbessert werden müssten (z.B. in Form gemeinsamer Fort- und Weiterbildungsangebote) - für die Vernetzung seien die Fachleute und für die Finanzierung sei die Politik gefragt.
Dr. Meryam Schouler-Ocak, Leiterin des Berliner Bündnisses gegen Depression hob in ihrem Statement die Risikofaktoren für psychische Erkrankungen im Alter hervor. Demnach hätten sozial Benachteiligte einen höheren Risikoanteil und Depression sei wiederum ein Risikofaktor für Demenzerkrankungen. Wie Dr. Gerd Benesch, Facharzt für Nervenheilkunde und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ebenfalls ausführt, würde die momentane Versorgungsstruktur - hinsichtlich der Anzahl an psychisch Erkrankten - nicht ausreichen. Voraussetzung für eine adäquatere Versorgung der Betroffenen sei allerdings auch, dass Depression im Alter überhaupt erkannt werden müsse. Hier seien vor allem Hausärzte gefragt. Schouler-Ocak sprach sich deshalb für mehr Informations- und Aufklärungskampagnen aus.
Der Geschäftsführer des Berliner Krisendienstes der Region Südost, Fritz Kiesinger, warnte vor einer Streichung der finanziellen Mittel für die Pflegestützpunkte. Die Pflegestützpunkte seien wichtig bei der Unterstützung der Zuweisungen zum Versorgungsnetz.
Die Eröffnungsrede von Vorstandsmitglied Pilar Isaac-Candeias erscheint in der kommenden Ausgabe des Psychotherapeutenjournals in leicht gekürzter Form. Für interessierte Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten bietet die Kammer ab November 2012 ein regional- und sektorenübergreifende curriculare Fortbildung an, die vom Institut für Alternspsychotherapie und angewandte Gerontologie organisiert und durchgeführt wird.