Der ersten repräsentativen Umfrage in der deutschen Allgemeinbevölkerung zufolge wurde 8,6 % der Mädchen und 2,8 % der Jungen im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Übergriffe mit direktem Körperkontakt durch erwachsene Täter (Wetzels 1997). Neuere, ebenfalls repräsentative Untersuchungen in Deutschland ergaben einerseits niedrigere (vgl. Bieneck et al. 2011), andererseits aber auch höhere Prävalenzraten (Häuser et al 2011), wobei es einen Zusammenhang mit der Altersverteilung der untersuchten Stichprobe gibt - je mehr ältere Menschen einbezogen werden, umso höher war die Prävalenz. So ist offensichtlich davon auszugehen, dass die Opfer sexueller Traumatisierungen, die unter Spätfolgen lange Zeit folgen, meist keine Strafanzeige erstatten und zum Teil erst sehr spät das Erlebte anderen Menschen anvertrauen. Insofern bilden jene Fälle, die der Justiz bekannt werden und im sogenannten Hellfeld erscheinen, nur einen Teil der Problematik ab. Auch Konsum, Besitz und Verbreitung von fotografischen oder filmischen Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs oder der expliziten Darstellungen der unbekleideten Genitalien von Kindern bleiben in den meisten Fällen unentdeckt und finden im Dunkelfeld statt.
Bisherige Bemühungen der verursacherbezogenen Prävention haben sich vor allem auf verurteilte Täter - also das Hellfeld - gerichtet und damit zwei Zielgruppen nicht angesprochen:
- reale Dunkelfeldtäter, die bereits Übergriffe begangen haben, welche aber nicht justizbekannt geworden sind
- potenzielle Täter, die noch keine Taten begangen haben, aber befürchten, dass es zu einem Übergriff oder zur Nutzung von Missbrauchsabbildungen kommen könnte.
Das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" möchte explizit diese Zielgruppen erreichen, um sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern. Dies wird von der Annahme getragen, dass Täter mit einer sexuellen Präferenzstörung wie einer Pädophilie besonders gut für präventive Maßnahmen zu erreichen sind, weil die Betroffenen um ihre sexuelle Ausrichtung und damit verbundene sexuelle Wünsche wissen.
Das 2005 vom Berliner Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Universitätsklinikums Charité ins Leben gerufene "Präventionsprojekt Dunkelfeld" (PPD) ist mittlerweile auch in Kiel (seit 2009), Regensburg (2010), Leipzig (2011), Hannover (2012), Hamburg (2012) und Stralsund (2013) vertreten. Das dortige therapeutische Angebot wird - wie erwartet - von den Betroffenen auch in Anspruch genommen. Im gesamten Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" haben sich bis März 2013 rund 2800 hilfesuchende Personen gemeldet. Es wendet sich gezielt an die Gruppe potenzieller Täter und realer Dunkelfeld-Täter mit pädophiler oder hebephiler Neigung. Ziel des Projekts ist es, durch präventive Therapie einen aktiven Beitrag zum Kinderschutz zu leisten. Die Betroffenen werden therapeutisch in ihrem Bestreben unterstützt, keinen erstmaligen oder wiederholten sexuellen Kindesmissbrauch zu begehen und keine Missbrauchsabbildungen zu konsumieren.
Um die Zielgruppe zu erreichen, wird mit Hilfe einer Medienkampagne auf die Möglichkeit der Beratung sowie auf therapeutische Hilfe aufmerksam gemacht. Die Botschaft der Kampagne lautet: "Du bist nicht schuld an Deinen sexuellen Gefühlen, aber Du bist verantwortlich für Dein sexuelles Verhalten! Es gibt Hilfe - werde kein Täter!" Mitte Juli erscheint der neue TV- und Kinospot "Kein Täter werden", der für eine verursacherbezogene Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs wirbt und auch unter www.kein-taeter-werden.de abrufbar sein wird.
Rund 1800 Männer und Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet haben sich in den Jahren 2005 bis 2012 allein am Berliner Standort gemeldet. Rund 700 reisten zur Diagnostik nach Berlin, rund 400 von ihnen konnte ein Therapieangebot gemacht werden. Insgesamt haben seitdem über 150 Männer die Therapie begonnen und mehr als 80 erfolgreich abgeschlossen. 30 Projektteilnehmer befinden sich derzeit am Standort Berlin in Therapie,12 Teilnehmer besuchen die Nachsorgegruppe.
Kontakt:
Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin
Jens Wagner, Öffentlichkeitsarbeit
Luisenstraße 57,
10117 Berlin-Mitte,
Tel. 030 450 529 450,
Links:
www.kein-taeter-werden.de/story/17/4317.html
Literaturangaben zum Präventionsprojekt und zum Netzwerk "Kein Täter werden" sind über Jens Wagner erhältlich bzw. hier abrufbar.
Fragen an Herrn Prof. Dr. Dr. Klaus Beier
1. Über welchen Weg kommen potenzielle oder Dunkelfeld-Täter zu Ihnen?
Bahnend ist der eigene Leidensdruck aufgrund einer bestehenden pädophilen oder hebephilen Neigung. Ersteres ist die sexuelle Ansprechbarkeit durch das vorpubertäre Körperschema, letzteres durch das frühpubertäre Körperschema. Sofern die Betroffenen selber der Auffassung sind, dass sie die Verantwortung dafür haben, dass aus ihrer Neigung keine Taten resultieren dürfen, sind sie auch bereit, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, sofern sie sicher sein können, nicht für ihre Pädophilie oder Hebephilie sozial stigmatisiert zu werden. Diese Sicherheit haben sie an unserem Institut und den anderen Anlaufstellen des Präventionsnetzwerkes Dunkelfeld. Es gilt uneingeschränkt die Schweigepflicht und es besteht auch die Möglichkeit anonym Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aufmerksam werden Betroffene durch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie über das Internet, in dem mit AdWords-Anzeigen geworben wird, die Google kostenfrei für das Projekt schaltet. Viele erhalten die ersten Informationen auch über Empfehlungen von Ärzten, Psychotherapeuten, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen, teilweise auf der Grundlage von ausgelegten Flyern. Da die Motivation auch durch Angehörige gefördert wird, macht es zudem großen Sinn, den Bekanntheitsgrad des Präventionsprojekt so weit wie möglich allgemein zu steigern. Es gibt nämlich immer noch Betroffene, die von dem Therapieangebot gar nichts wissen und sich an die Hochschulambulanz für Sexualmedizin wenden in der zutreffenden Annahme, dass sie dort richtig sind und ihnen geholfen werden kann. Von dort erfolgt dann ebenfalls, sofern die Einschlusskriterien gegeben sind, die Aufnahme in das Präventionsprogramm.
2. Wie sieht Ihr psychotherapeutisches Beratungs- bzw. Behandlungsangebot zur Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs im Dunkelfeld konkret aus?
Aus der klinischen Arbeit im Indikationsgebiet der sexuellen Präferenzstörungen ist bekannt, dass Betroffene große Angst vor sozialer Ausgrenzung haben - dies gilt ganz besonders für die Pädophilie. Ihre Phantasie beinhaltet die Angst, dass ihnen aufgrund ihrer Präferenzstruktur primär mit Abscheu, Ekel und Strafbedürfnis begegnet wird. Die Herkunft dieser Befürchtung liegt im geringen Selbstwertgefühl, das bei einer großen Zahl von pädophilen Männern in erster Linie durch die sexuelle Präferenz und deren Stigmatisierung bestimmt ist. Darum ist eine wertfreie Haltung gegenüber der Präferenzausrichtung eine entscheidende Voraussetzung für die Tätigkeit in diesem Arbeitsgebiet. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, therapeutischerseits bezüglich möglicher Verhaltensstörungen (wie sexuellen Übergriffen oder der Nutzung von Missbrauchsabbildungen) eine unmissverständliche Ablehnung zu vermitteln. Eine solche klare Positionierung des Therapeuten im Sinne einer Akzeptanz der sexuellen Präferenz an sich und einer ablehnenden Haltung gegenüber sexuellen Übergriffen kann den Patienten dabei unterstützen, die eigene sexuelle Präferenzstruktur ins Selbstbild zu integrieren. Diese Haltung bestimmt die Diagnostik und auch die therapeutischen Interventionen sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting. In der diagnostischen Phase werden neben der Abklärung der Präferenzstörung die Einschlusskriterien für die Aufnahme in das Therapieprogramm geprüft, wobei insbesondere wichtig ist, dass die Betroffenen nicht der Justiz bekannt sind, sofern sie bereits Übergriffe begangen oder Missbrauchsabbildungen genutzt haben.
3. Nach welchem therapeutischen Konzept arbeiten Sie?
Insgesamt ruht die Therapie als Ausdruck einer biopsychosozial fundierten Behandlung auf drei Säulen: sexualmedizinisch-fundierte Grundhaltung bezüglich sexueller Präferenzstörungen, kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapiemethoden sowie Pharmakotherapie. Das Behandlungskonzept ist über ein Manual (Berliner Dissexualitätstherapie zur Prävention sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche, BEDIT), definiert, das formal als Richtlinie bezüglich der Behandlungsinhalte, -prozesse und -ziele dient. Primärer Endpunkt ist die Sicherstellung der Verhaltenskontrolle. Das BEDIT orientiert sich an im Hellfeld evaluierten kognitiv-behavioralen Behandlungsprogrammen für Sexualstraftäter aus dem angloamerikanischen Sprachraum, die an die Besonderheiten potentieller und realer Dunkelfeldtäter angepasst wurden. Eine Heilung im Sinne einer Löschung der auf Kinder bezogenen sexuellen Impulse ist nach bisherigem Wissensstand nicht möglich. Die Grundlage des BEDIT bildet daher die Integration der Ansprechbarkeit durch den kindlichen Körper in das Selbstkonzept und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Verantwortungsübernahme in Risikosituationen. Der multimodale Ansatz unterstützt die Betroffenen dabei, ihre sexuelle Präferenz als unveränderbar zu akzeptieren und in ihr Selbstkonzept zu integrieren. Einstellungsänderungen, verbesserte Perspektivenübernahme, Emotions- und Stressbewältigung sowie Konfliktbewältigung in Beziehungen ermöglichen darüber hinaus die Stärkung der Selbstregulationskompetenz der Betroffenen. Diese Faktoren bilden zudem die Grundlage für Akzeptanz und Compliance hinsichtlich der Einnahme von Medikamenten wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, Antiandrogenen von Cyproteron-Acetat-Typ oder GnRH-Analoga. Eine pharmakotherapeutische Intervention führt zu einer Reduktion der gedanklichen Beschäftigung mit sexuellen Inhalten, eine Abnahme der Masturbationsfrequenz und sexuell motivierten Aufsuchverhaltens. Gemeinsam mit der Einbeziehung naher Bezugspersonen wirken die genannten therapeutischen Prozesse hemmend auf die verschiedenen Formen sexuell motivierten Verhaltens, so dass über eine Verknüpfung dieser Behandlungsansätze sichergestellt werden soll, dass die aus der Sexualpräferenz resultierenden sexuellen Impulse auf der Phantasieebene belassen werden und deren Übergang auf eine Verhaltens- bzw. Interaktionsebene unterbunden bleibt (bei potentiellen Tätern) bzw. zukünftig verhindert wird (bei realen Dunkelfeldtätern).
4. Wer trägt die Kosten für die Behandlungsmaßnahme?
Das Präventionsprojekt Dunkelfeld ist durch Unterstützung der Volkswagenstiftung 2005 realisiert worden und wird seit 2008 zusätzlich durch Bundesmittel unterstützt, die seit 2011 die einzige Finanzierungsquelle darstellen und jeweils nur befristet gewährt werden können. Für eine Weiterführung bis zum Jahr 2016 will sich das Bundesjustizministerium erneut engagieren, das bislang das Projekt nachhaltig gefördert hat. Über drei Jahre erfolgte schließlich auch eine Förderung durch das Bundesfamilienministerium, die speziell auf eine Prävention der Nutzung von Missbrauchsabbildungen im Dunkelfeld ausgerichtet war und zur Produktion eines darauf abzielenden TV-Spots führte.
5. Wer ist in Berlin beteiligt im Netzwerk "Kein Täter werden"?
Ausgangspunkt für das Netzwerk "Kein Täter werden" war das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Bereits zu Beginn wurde es von der Kinderschutzorganisation Hänsel + Gretel, später auch der Deutschen Kinderhilfe unterstützt. Mittlerweile ist es Teil des "Berliner Netzwerks gegen Sexuelle Gewalt" und steht im Austausch mit der Kinderschutzgruppe der Charité sowie anderen Beratungseinrichtungen (beispielsweise "Kind im Zentrum"), dem Weißen Ring, dem Landessportbund Berlin, dem Berliner Fußballverband und dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Johannes-Wilhelm Rörig).
6. An wen können sich potenzielle Patienten/Täter wenden? Wie lange sind die Wartezeiten?
Potentielle Projektteilnehmer können sich telefonisch unter 030 450 529 450 melden. Die Sprechzeiten sind montags, dienstags und donnerstags von 15 bis 17 Uhr sowie mittwochs von 11 bis 13 Uhr. Außerdem können sie eine Mail unter praevention@charite.de schicken oder das Kontaktformular auf der Website unter www.kein-taeter-werden.de/app/kontakt/message nutzen. Termine zur Diagnostik werden relativ kurzfristig (innerhalb von 2 bis 3 Wochen) vergeben - eine Aufnahme in die Behandlung erfolgt je nach freien Plätzen in der Gruppe bzw. in der Einzeltherapie. Durch eine Umstellung auf das Konzept offener Gruppen entstehen mittlerweile nur sehr geringe Wartezeiten, die 3 Monate selten übersteigen.