Im November 2009 hat die Internationale Psychoanalytische Universität (IPU) in Berlin den Lehrbetrieb aufgenommen; bei der IPU handelt es sich um eine staatlich anerkannte private Hochschule, die u. a. einen Master-Studiengang in Klinischer Psychologie/Psychoanalyse anbietet, dessen zentrale klinische Theorie die Psychoanalyse darstellt.
Ende Januar 2012 fand die Einweihung der neuen Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der IPU statt, die von der KV Berlin in Bezug auf Psychotherapie, Forschung und Lehre ermächtigt ist. Im Rahmen der Einweihungsfeier stellte ihr ärztlicher Leiter, Prof. Dr. med. Heinrich Deserno, das Angebot der Hochschulambulanz vor: Bei dem Forschungsschwerpunkt handelt es sich um die Diagnostik, die Therapieindikation, Krisenintervention und Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Während die Diagnostik und die therapeutischen Interventionen von approbierten Psychothera-peuten im Rahmen der Psychotherapierichtlinien durchgeführt werden, können die Studierenden der IPU die Untersuchungen beobachten (z.B. hinter dem EinwegsspiegeI, Videoaufzeichnungen auswerten und die Diagnostik in der Praxis kennenlernen.
Patienten können sich mit einer haus- oder fachärztlichen Überweisung in der Ambulanz anmelden; die Kosten werden mit den Krankenkassen abgerechnet bzw. bei den privaten Krankenversicherungen eingereicht werden. Alle approbierten Psychotherapeuten, die mit der Ambulanz zusammenarbeiten, sollten bereit sein, ihre Arbeit mit den Patienten wissenschaftlich begleitet auswerten zu lassen; das gleiche gilt für die Patienten. Die IPU-Ambulanz kooperiert mit anderen Hochschulambulanzen, staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten, Kliniken und niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, welche die Weiterbehandlung von Patienten übernehmen, die außerhalb des Schwerpunktes Persönlichkeitsstörungen liegen; die Weiterbehandlung wird durch die Ambulanz vermittelt.
Aufgaben der Ambulanz sind also neben Diagnostik und Therapie der Patienten die Vermittlung von praktischen Erfahrungen für Studierende und, wie Prof. Deserno betont, der weitere Ausbau und Ausdifferenzierung unseres Wissens über die Problematik der Persönlichkeitsstörungen. "Wir wissen inzwischen einiges über Persönlichkeitsstörungen, aber unser Wissen wirkt manchmal wie ein Filter, der auch manches ausblendet; daher ist ein Reinigen oder Ersetzen des Filters von Zeit zu Zeit nötig!"
Der Gründer und Präsident der IPU, Prof. Dr. disc. pol. Jürgen Körner, betonte den Anspruch der Hochschulambulanz, neben der Erfüllung des Versorgungsauftrages für die Patienten eine hochwertige Forschung durchzuführen; dabei sei ihm die Zusammenarbeit mit den Ausbildungsinstituten für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die im Verfahren Psychoanalyse und Tiefenpsychologie ausbilden, besonders wichtig. Zum Zusammenhang der an der Hochschule gelehrten theoretischen Disziplin, der Psychologie, und der dem dann möglicherweise folgenden Beruf, der Praxis und der Profession, nämlich der Psychotherapie, führte Herr Prof. Körner aus: Bei der Disziplin Psychologie gehe es in der Regel um die Vermittlung einer Theorie; im Bereich der Profession Psychotherapie gehe es dagegen um das Fallverstehen; wenn zwischen beiden Bereichen eine große Diskrepanz bestehe, ist das wissenschaftliche Wissen insuffizient auf dem Feld der Profession! Das Feld der Profession sei immer gekennzeichnet von einem großen Maß an Ungewissheit, die Risikofreude und Entscheidungen bei den Handelnden verlange. Genau an dieser Schnittstelle zwischen Disziplin und Profession setze die Arbeit der Hochschulambulanz an. Während sich aus der Disziplin Psychologie zunächst die Lerntheorie und dann die Verhaltenstherapie entwickelt habe, sei die Psychoanalyse den umgekehrten Weg gegangen: Zunächst sei diese Profession gewesen; danach sei induktiv die Theorie aus der Praxis heraus entwickelt worden.
Die aktuellen Herausforderungen für Psychotherapie und Psychoanalyse beschrieb Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser wie folgt: Wesentlich in der spätmodernen Lebensform sei das Ziel der menschlichen Selbstverwirklichung; die Individuen prägen eine "situative Identität" aus; es werde Offenheit und Flexibilität gegenüber verschiedenen Lebensformen erwartet. Der "Kollateralschaden" dieser Entwicklung sei das Gefühl zahlreicher Menschen von Sinnentleerung, von Beziehungsverlusten, von Scheitern in Bezug auf persönliche Beziehungen, innerer Leere; das Leben fühle sich an wie der Versuch, auf einem rutschenden Abhang die Balance zu halten. Während es in der Wilhelminischen Zeit Freuds darum ging, die Patienten aus ihrer Triebunterdrückung zu befreien, gehe es für die Psychotherapeuten heute darum, die durch oben beschriebene gesellschaftliche Prozesse ausgelösten traumatisierenden Erfahrungen, Kränkungen, Versagenserfahrungen und Scheitern der narzisstischen Allmachtsphantasien zu "containen".
Der feierlichen Einweihung der Ambulanz folgte dann die erste Werkstatt-Tagung der IPU-Hochschulambulanz, die mit einer Werkstattreihe fortgeführt wird; das Thema der ersten Tagung hieß: "Diagnostik der Struktur". Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber (Universitätsklinikum München und IPU Berlin) stellte in ihrem Einführungsvortrag zum Thema Forschung in Hochschulambulanzen die Forschung an drei Beispielen dar: der Erforschung der eigenen Ambulanz (z.B. der Zufriedenheit der Patienten mit der Ambulanzarbeit); dem Vergleich mit anderen Ambulanzen; der Münchener Therapievergleichsstudie bei chronischen Depressionen.
Mehrere renommierte Wissenschaftler referierten über neuere Forschungsergebnisse aus den klinischen Anwendungsfeldern der Psychoanalyse: So sprach Dr. Johannes Zimmermann (als Vertretung von Prof. Dr. phil. Cord Benecke, Universität Kassel, über OPD-Diagnostik und Affektregulierung. Prof. Dr. phil. Svenja Taubner (IPU, Universität Kassel) sprach über Bindung, Mentalisierung und Social Cognition, Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber (Universität München / IPU) über die Erfassung therapeutischer Veränderung in der psychischen Struktur mit den Skalen psychischer Kompetenz (SPK). Dr. phil. Susanne Hörz (Universität München) stellte das strukturierte Interview zur Persönlichkeitsorganisation (STIPO) nach Kernberg vor. Hierbei lassen sich die für die Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung relevanten Parameter untersuchen, z. B. der Grad einer möglichen Identitätsdiffusion, der Grad der Einschränkung der Realitätskontrolle, die Stärke primärer Aggression und die Qualität der Abwehrmechanismen, die Fähigkeit, sichere Beziehungen einzugehen, der Grad der Angst vor Selbstverlustes in Partnerbeziehungen bzw. im Falle des Alleinseins; die Neigung zum Idealisieren bzw. Abwerten, und die Frage der Konstanz von Wertvorstellungen.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Horst Kächele (IPU) referierte über die Methode "Der zentrale Beziehungskonflikt" (begründet von L. Luborsky), die sich auf die Untersuchung von Beziehungsepisoden in der Psychotherapie bezieht. Über die Chancen einer Narrativ-Analyse sprach Prof. Dr. phil. Brigitte Boothe (Universität Zürich). Schließlich referierte Christa Rohde-Dachser (Prof. em. Universität Frankfurt/M.) zu den Gender-Aspekten von Persönlichkeitsstörungen.
Als persönlichen Eindruck von der Eröffnungsfeier der Hochschulambulanz und der ersten Werkstatt-Tagung nehme ich mit, dass zukünftig an der IPU eine sehr praxisnahe und moderne, klinisch orientierte Forschung auf der Basis der modernen psychoanalytischen Theorien zu erwarten ist, die sowohl das Behandlungsangebot für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen bereichern als auch für die Fortbildung approbierter Psychotherapeuten einen besonderen Rang erreichen wird.
Christoph Stößlein, Vorstand
Psychotherapeutenkammer Berlin
Kontakt:
Dipl.-Päd. Christoph Stößlein
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie/Psychoanalyse Jüdenstr. 39, 13597 Berlin
E-Mail: christophstoesslein@snafu.de