Frau Holz, Sie sind seit mehr als zehn Jahren Leiterin des Berliner Krisendienstes, Region Mitte. Der Berliner Krisendienst ist ein kostenloses und wohnortnahes (an neun Standorten in Berlin) Hilfe- und Beratungsangebot für Menschen in akuten Krisen, sie bieten rund um die Uhr individuelle Beratung und therapeutisch orientierte Gespräche, zum Teil auch als mobile Einsätze an.
Welche Voraussetzungen müssen psychotherapeutische KollegInnen erfüllen um im Berliner Krisendienst mitarbeiten zu können?
Es gibt im Berliner Krisendienst sowohl festangestellte KollegInnen als auch KollegInnen, die auf Honorarbasis bei uns arbeiten, deren Haupttätigkeit z. B. in einer Beratungsstelle, einer Kontakt- und Begegnungsstätte, in einer Klinik, beim SpD, o. ä. ist.
Die fachlichen Voraussetzungen für eine freiberufliche Tätigkeit sind für psychotherapeutische KollegInnen ihre Krisen- und Beratungskompetenz mit möglichst ein paar Jahren Berufserfahrung. Sie brauchen gute Kenntnis des psychiatrischen und psychosozialen Versorgungssystems, um qualifiziert weitervermitteln zu können. Entsprechend des Vernetzungsgedankens sollte eine psychiatrisch-psychosoziale Tätigkeit in einer der Versorgungsregionen des Berliner Krisendiensts ausgeübt werden. Des Weiteren sind fremdsprachliche und interkulturelle Beratungskompetenzen sowie traumatherapeutische Kenntnisse sehr erwünscht.
Sie müssen bereit sein, am Telefon, in persönlichen Gesprächen, als auch im Rahmen von mobilen Einsätzen zu beraten. Und sie müssen ebenso bereit sein, Dienste zu ungewöhnlichen Zeiten zu übernehmen. Der überwiegende Teil der Dienste findet in unserer Kernarbeitszeit von 16.00 Uhr bis 24.00 Uhr an einem der regionalen Standorte statt. Die Nachtdienste (24.00 Uhr – 08.00 Uhr) sowie Wochenendtagdienste (08.00 Uhr – 16.00 Uhr) werden im zentralen Standort in der Großen Hamburger Str. 5 in Mitte durchgeführt.
Auch „personale Kompetenzen“ wie z. B. Flexibilität, Teamfähigkeit, Belastbarkeit sowie die Fähigkeit zu selbstständigem und strukturiertem Arbeiten in komplexen Zusammenhängen sind wichtig. PsychotherapeutInnen, die eine Festanstellung im Krisendienst anstreben, sind natürlich auch in organisatorische Aufgaben eingebunden.
Von den 39 Festangestellten verfügen fast alle über psychotherapeutische Zusatzqualifikationen, sei es VT, TP, Systemische, Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Paartherapie. Jedoch sind nur ein Teil der festangestellten PsychologInnen psychologische PsychotherapeutInnen. Bei den Honorarkräften sind therapeutische Qualifikationen zum Teil vorhanden. Auch hier sind nur ein Teil der HonorarkollegInnen psychologische PsychotherapeutInnen.
Welches Klientel nutzt den Berliner Krisendienst?
Das Angebot des Krisendienst richtet sich nicht nur an betroffene KlientInnen, sondern auch Angehörige, professionelle HelferInnen oder andere Beteiligte, die mit Menschen in Krisen zu tun haben. Unsere Klientel ist sehr heterogen bezogen auf die verschiedenen Bedarfe, Problemlagen und Symptomatiken. Häufig werden gravierende Krisen und Konflikte z. B. durch schwere Beziehungskonflikte, Verlusterlebnisse, Traumata oder existentielle soziale Probleme ausgelöst, was dann Depressionen, Ängste, Suizidgedanken oder andere Symptome zur Folge hat. Des Weiteren nutzen chronisch psychisch Kranke, Menschen mit geistiger Behinderung in akuten Krisen, Menschen mit Suchtproblemen in akuten Krisen, oder auch (meist Angehörige) von pflegebedürftigen und dementen Menschen den Krisendienst.
Wie gehen Sie in der alltäglichen Arbeit mit Menschen mit Psychosen um? Gibt es besondere therapeutische Ansätze?
Menschen mit akuter psychotischer Symptomatik werden eher über Dritte gemeldet, was häufig zu mobilen Einsätzen führt, zum großen Teil unter Hinzuziehung unserer HintergrundärztInnen. Hier geht es meist um diagnostische Abklärung, ob akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und die Person (notfalls auch gegen ihren Willen) in eine Klinik gebracht werden kann /muss.
Aber wir werden auch direkt von Menschen mit Psychosen in der Akutphase kontaktiert.
Chronisch psychisch Kranke kontaktieren uns häufig telefonisch. In Ergänzung vorhandener Hilfesysteme bieten wir hier meist kurze entlastende Gespräche, grenzen im Rahmen der Situationsklärung mit strukturierten Nachfragen auf einen Fokus ein, klären ab, ob aktuell akute, über Alltägliches hinausgehende Probleme vorliegen. Bei bestehender Einbindung in das Hilfesystem werden in der Regel weitergehende Gespräche nicht angeboten, sondern die KlientInnen in das Hilfesystem zurückverwiesen.
Häufig stellen wir den Erstzugang ins Hilfesystem dar, bzw. erreichen Menschen in der Phase der Ersterkrankung. Unser Anliegen ist es generell, möglichst präventiv im Sinne einer Sekundärprävention wirksam zu sein. Wir unterstützen eine diagnostische Abklärung, ggf. Medikation, weisen auf jeweils adäquate Angebote (wie z. B. bei Ersterkrankungen Fritz im Urban, Soteria, FETZ o. ä. oder PIAs, Psychiatrische Abteilungen, niedergelassene PsychiaterInnen…) hin, oder laden zu Folgegespräch(en) ein, um sicher zu gehen, ob eine geeignete Maßnahme auch angenommen und umgesetzt wird, um die Entwicklung im Verlauf besser einschätzen zu können und weiter Entlastung, Klärung und Stabilisierung zu erreichen.
Auch bei Menschen mit präpsychotischer Symptomatik kann frühzeitiges Handeln präventiv wirksam sein. Häufig werden auch psychoseähnliche Symptome geschildert, die sich dann aus dem Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen erklären lassen.
Wie verläuft die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen, den PsychiaterInnen, den Rettungskräften, der Polizei, den MitarbeiterInnen der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung?
Die Besonderheit am Krisendienst ist, dass wir mit einem Großteil der an der psychosozialen Versorgung beteiligten Einrichtungen vernetzt sind.
Durch die Einbindung von MitarbeiterInnen aus Einrichtungen, die bei uns als Honorarkräfte arbeiten, wird das Wissen aus den Einrichtungen in den Krisendienst gebracht und umgekehrt. Wir haben uns seit unserem Bestehen in der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht, so dass wir KlientInnen aus der psychosozialen und psychiatrischen Versorgungslandschaft vermittelt bekommen und zielgerichtet KlientInnen an passende/spezialisierte Einrichtungen vermitteln (Beratungsstellen, Spd's, KBSn, Wohneinrichtungen, psychiatrische- und Krisenstationen, Traumaambulanzen...).
BetreuerInnen aus Wohneinrichtungen nutzen den Krisendienst häufig bei der diagnostischen Abklärung und Unterstützung von Einweisungen.
Niedergelassene PsychotherapeutInnen weisen sehr häufig auf den Krisendienst hin, wenn sie z. B. auch in ihren Ferienzeiten nicht akut übernehmen können. Manchmal auch, um sich in ihrer Suizidabklärung beraten zu lassen. Generell werden wir sehr häufig von KlientInnen in Anspruch genommen, die eine Therapie wünschen, aber keinen Therapieplatz zeitnah finden - trotz der Terminservicestelle, der Einrichtung der Sprechstunden und Akutbehandlung. Besonders bei KlientInnen mit Suizidgedanken ist es dann wichtig, schnell Gespräche anbieten zu können.
Wir sind in vielen Gremien vertreten, seien es die PSAGen, Arbeitskreise beim Paritäter oder Arbeitskreise, in denen es um die Versorgung von spezifischen KlientInnengruppen geht (wie z. B. MigrantInnen, alte Menschen, geistig Behinderte usw). Allein bei uns in Mitte findet mehr als in 1x pro Spätdienst ein Gespräch in einer anderen Sprache statt. Angesichts der Flüchtlingskrise haben wir u. a. einen eigenen DolmetscherInnenpool eingerichtet.
Mit der Polizei haben wir seit 2009 einen Kooperationsvertrag. Sie nutzt den BKD meist bei der diagnostischen Abschätzung einer Gefährdung durch akute Suizidalität, bei der Überbringung einer Todesnachricht, der Erstversorgung bei akut Traumatisierten oder der Betreuung von Hinterbliebenen nach einem Suizid. So versuchen wir möglichst frühzeitig Betroffene zeitnah zu begleiten, um posttraumatische Störungen verhindern zu helfen. Wir schulen die Polizei (z. B. die WachleiterInnen) und sind an einer regelmäßig stattfindenden Fortbildung von PolizistInnen im Umgang mit psychisch Kranken beteiligt.
Bei Großschadenslagen oder Terroranschlägen (wie z. B. dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz) sind wir mit der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) von Betroffenen, Überlebenden, Hinterbliebenen und ZeugInnen betraut. Sind Berliner BürgerInnen bei Terroranschlägen im Ausland betroffen, wurden wir schon mehrfach von NOAH (Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe des Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) kontaktiert. Wir nehmen teil an der Projektgruppe Fachberater Psychosoziale Unterstützung beim Senat für Inneres und sind im Austausch mit der zentralen Anlaufstelle für Opfer von Terror und Großschadensereignissen. Wir bieten Fortbildungen für MitarbeiterInnen der Bezirksämter zu GSE an der Verwaltungsakademie, sind beteiligt an der Ausbildung zum Leiter-PSNV an der Berliner Feuerwehr und Rettungsdienst Akademie.
Zudem sind wir eingebunden in das Einsatznachsorgeteam der Berliner Feuerwehr, kümmern uns um Feuerwehrmänner und –frauen nach belastenden Einsätzen.
Wie läuft ein konkreter mobiler Hilfeeinsatz ab?
Ein Beispiel: Ein Anrufer macht sich Sorgen um einen Mitbewohner. Wir klären am Telefon Symptomatik und Problemlage ab. Da eine psychotische Symptomatik geschildert wird, sagen wir einen Hausbesuch zu. Nach Rücksprache mit der Hintergrundärztin fahren wir vor Ort. Im Gespräch mit dem Klient, der völlig in seiner psychotischen Welt gefangenen ist, gelingt es, eine freiwillige Aufnahme in das zuständige Krankenhaus zu bewirken. Die Hintergrundärztin stellt Kontakt mit der Klinik her, kündigt den Klienten dort an und stellt einen Arztbrief aus. Mit der Feuerwehr wird der Klient ins Klinikum gebracht. Der Polizeipräsident ordnet die Einweisung an (das Hoheitsrecht ist geregelt in § 25 PsychKG - Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten).
Was ist das Besondere/das Reizvolle für Sie, hier zu arbeiten?
Die Arbeit ist abwechslungsreich und spannend. Man weiß nie vorher wie der Dienst verlaufen wird, was auf einen zukommt. Man bekommt ein sehr breites Spektrum an Menschen mit den unterschiedlichsten Problemlagen, Symptomatiken und Beziehungsgestaltungen zu Gesicht. Die Arbeit mit den KlientInnen ist nicht bürokratisch überlastet. Die Gespräche können sehr individuell gestaltet werden und folgen keinem vorgefassten Manual.
Es sind nicht nur meine therapeutischen Kompetenzen gefragt, sondern auch mein Wissen um die Versorgungsstrukturen und -angebote, ich bin eingebunden in die Projektorganisation, Öffentlichkeits-, Vernetzungs- und Gremienarbeit.
Die kollegiale und multiprofessionelle Teamarbeit ist wichtig und reizvoll. Man ist eingebunden in sein regionales Team bestehend aus sechs festangestellten KollegInnen, arbeitet aber auch viel mit den KollegInnen aus den anderen BKD Standorten in AG's zusammen. In Bezug auf die HonorarkollegInnen arbeitet man in den Diensten immer in einem Team bestehend aus meist drei erfahrenen KollegInnen aus den verschiedensten Bereichen der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung, mit denen man sich im Dienst austauschen kann.
Gleichzeitig kann man sehr eigenständig arbeiten.
Das Setting ist vielfältig. klassisch gegenübersitzend im direkten Gespräch, am Telefon oder am Ort des Geschehens bei einem mobilen Einsatz. Neben Einzelgesprächen finden auch Paargespräche statt, oder man arbeitet mit einer traumatisierten oder trauernden Gruppe (z. B. nach Suizid, Zeugen eines Mordes, schweren Unfalls...)
Es finden viele Erstgespräche statt, aber es gibt auch die Möglichkeit von bis zu zehn Folgegesprächen, so dass man KlientInnen auch eine Weile begleiten kann. Da Menschen in Krisen oft sehr offen für Veränderung sind, sind die Stunden häufig sehr dicht, kommt man dem Menschen in sehr kurzer Zeit sehr nahe.
Welche Vorteile und Nachteile sehen Sie in einem Angestelltenverhältnis beim Berliner Krisendienst?
Das feste Gehalt (angemessen meiner Ausbildung als Psychologin in Orientierung nach TVL), die Bezahlung im Krankheitsfall und bezahlter Urlaub. Da es fast ausschließlich Teilzeitstellen (meist 30 WoStd) sind, kann man nebenher noch freiberuflich tätig sein. Für mich ist es wichtig, noch in freier Praxis zu arbeiten und damit auch langfristigere therapeutische Prozesse zu begleiten als Gegengewicht zu den Kurzinterventionen im BKD.
Vorteil als auch Nachteil ist die erforderliche zeitliche Flexibilität. Schichtarbeit ist anstrengend und fordernd, wie auch die regelmäßige Arbeit an Wochenenden und Feiertagen, birgt aber auch Freiräume.
Wenn ein/e PsychotherapeutIn eine Anstellung in diesem Feld sucht, wo sind die Stellen ausgeschrieben?
Auf unserer Website, bei den Dachverbänden wie dem Paritäter oder Caritasverband, den großen Tageszeitungen und internetbasierten Anbietern.
Leider können wir AusbildungskandidatInnen keine praktische Tätigkeit (PT 1 und 2) anbieten. Wir entsprechen nicht den Anforderungen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), da wir unsere Leistungen nicht über einen Sozialversicherungsträger abrechnen.
PsychotherapeutInnen dürfen keine KlientInnen des Krisendienst in ihre Praxis übernehmen – das schließt das sog. Wettbewerbsverbot (§ 60 Handelsgesetzbuch) für alle ArbeitnehmerInnen aus.
Kritisch und mit Bedauern sehe ich auch, wenn die Angestelltentätigkeit im Krisendienst eine Niederlassung ausschließt.
AutorInnen: Willy Müller-Rehberg, Anke Hackenschmidt, Matthias Bujarski
(Kammerbrief 04-2020)