Die kleinen Anfragen und deren Beantwortung (alle Zitate aus den Drucksachen 16/20655/14626/14627/15233 des Abgeordnetenhauses von Berlin)
Allein von Juli bis Februar 2011 stellte Elfi Jantzen (zuletzt zusammen mit Oliver Schruoffenleger.) drei schriftliche und eine mündliche Kleine Anfrage(n) zum Problemkreis "Psychische Auffälligkeiten bei Berliner Kindern und Jugendlichen und deren sinnvolle psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung." Im November 2010 fand - ebenfalls zu dieser Thematik - eine Veranstaltung der LAG Gesundheit der Berliner Grünen statt (wir berichteten). Die folgende Zusammenfassung ist der Versuch, die Essentials der Haltung des Berliner Gesundheitssenats in dieser komplexen Thematik darzustellen.
Zunächst wurde erfragt, ob die für die Gesamt-BRD zu konstatierende Zunahme psychischer Auffälligkeiten auf Berlin übertragbar ist. Dies wird lapidar verneint: "Aus den jährlichen Berichten der KJPD der Bezirke lässt sich jedoch für die letzten Jahre in Berlin keine Steigerung der Fallzahlen ableiten." Der aber durchaus konzidierten steigenden Komplexität der Hilfebedarfe bei Kindern und Jugendlichen und der zunehmenden Psychiatrisierung immer jüngerer Kinder soll mit 68 zusätzlichen (teil-)stationären Plätzen begegnet werden. Es wird außerdem auf die 2010 zusätzlich zugelassenen 81 ambulanten Praxissitze für Kinder- und Jugendlichen-PsychotherapeutInnen hingewiesen und festgestellt, "dass die Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher sichergestellt wird und qualifiziert auf hohem Niveau erfolgt."
Der Frage nach den Folgen reduzierter Hilfsmöglichkeiten im Jugendhilfe- und Schulbereich (z.B. im Schulpsychologischen Dienst; d. Verf.) bzw. der Verlagerung von Hilfen aus dem pädagogischen hin zum medizinisch-psychiatrischen Handlungsfeld als Konsequenz veränderter pädagogischer Rahmenbedingungen" zu interpretieren, wird als "monokausal" und "weder sinnvoll noch zukunftsträchtig" zurückgewiesen.
Auch den dringlichen Fragen, inwieweit bestimmte(n) Störungsbilder(n)
- durch fehlgeleitete Neuerungen und Gesetzen und in pädagogischen Interventionen (….) erst `produziert` werden,
- durch netzwerkorientierte Prävention in der Entstehung begegnet werden kann,
- zu spät behandelt werden und bereits eine Chronifizierung stattfindet,
wurde seitens des Senats sehr blumig begegnet. Man listete auf, welche Neuerungen im Schul-gesetz all dies verhindern sollen; vom neuen Modell des `entwicklungstherapeutischen Unter-richts` ist die Rede, von zu erreichenden `Kompetenzrastern` und einem Förderprogramm, das Verhaltensauffälligkeiten als Entwicklungsrückstand im sozial-emotionalen Bereich versteht und präventiv im Klassenverband oder in Kleingruppen umgesetzt wird. Wer auch nur einen kleinen Einblick in das Berliner Schulleben hat, weiß, dass die Realität in den meisten Berliner Schulen für Lehrer und Schüler weit davon entfernt ist, ein für alle heilsames und Defizite ausgleichendes Klima zu schaffen.
Nach Einschätzung seiner Kritiker wird im neuen Berliner Schulgesetz bzw. seiner Umsetzung, bzw. prinzipiell im deutschen Bildungswesen viel Makulatur produziert, ohne dass vernünftig investiert wird. (Am 9.6. fand eine von der GEW initiierte Großdemonstration unter dem Motto "Mehr Geld für Bildung in Berlin" statt.)
Beispiel Campus Rütli
Gott sei Dank gibt es aber auch Lichtblicke in der pädagogischen Landschaft: Das Beispiel "Rütli-Schule" in Berlin-Neukölln (heute: Campus Rütli) zeigt aber, dass gezielte Förder- und Bildungsangebote aus einem "Ort des Schreckens" …"ein kleines Paradies" gemacht haben (Berliner Zeitung vom 17.01.2009).
Die Lehrer dieser Schule hatten 2006 den bekannten Brandbrief an das Bezirksamt Neukölln geschrieben, in dem sie beklagten, sich den vielfältigen Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu kriminellen Attacken ihrer Schüler nicht mehr gewachsen zu sehen. Heute gibt es im Ganztagsbetrieb ein Breites Bildungs- und Freizeitangebot, das ausgiebig genutzt wird; um hartnäckige Schwänzer und zu Kriminalität neigende Schüler kümmern sich Schulpsychologen (!), Mitarbeiter des Jugendamtes und/oder der Jugendgerichtshilfe.
Es wurde - zugegeben - viel investiert: Nach Auskunft des pädagogischen Koordinators Klaus Lehnert beläuft sich die Summe für die durchgeführten baulichen Maßnahmen auf ca. 30 Millionen €, die sich seiner Meinung nach mehr als auszahlen.
Sämtliche Lehrer arbeiten freiwillig hier und die Schüler gehen inzwischen gerne in eine Schule, mit der sie sich gerade auch wegen der guten Ausstattung gut identifizieren können ("Früher lud z.B. der Zustand der naturwissenschaftlichen Räume eher zum Vandalismus als zum Lernen ein. Man hätte damals - ein weiteres Beispiel - niemals gewagt, einem Schüler eine Violine oder Gitarre in die Hand zu geben - heute gibt es ein schuleigenes Orchester.") War vor Jahren ein Schulabschluss an der Rütli-Schule eher die Ausnahme, verließen im letzten Jahr gerade mal zwei Schüler die Schule ohne Abschluss.
Die Investitionen waren, wie gesagt, beträchtlich, aber immerhin ergab die Zusammenlegung von drei Schulen, einem Kindergarten und einem Hort Synergieeffekte, die das erwähnte Bildungsangebot ohne zusätzliche Einstellungen bzw. finanzielle Mittel möglich machen. Und angesichts der oben beschriebenen Komplexität psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen und deren zunehmende Psychiatrisierung lohnt sich vielleicht auch ein vergleichender Blick auf die daraus entstehenden enormen gesellschaftlichen Folgekosten mit solchen zunächst sehr drastisch anmutenden Investitionszahlen - ganz abgesehen von den schwerlich zu beziffernden positiven Auswirkungen engagierter Schul- und Netzwerkprojekte auf Sinnfindung und Zukunftsorientiertheit der Kinder (und ihrer Familien.)
Interview mit Elfi Jantzen, Familienpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, MdA
Liebe Elfi, Du engagierst ich seit unserer gemeinsamen Elterarbeit im Kindergarten unserer Söhne innerhalb der Grünen-Fraktion in unterschiedlichen Funktionen konsequent für die Belange von Kindern und Jugendlichen, bzw. ihrer Familien. Nun strebst Du an, bei den nächsten Berliner Wahlen Bürgermeisterin für Charlottenburg-Wilmersdorf zu werden. Bevor ich zu Perspektiven im Zusammenhang mit diesem Amt komme, zunächst ein paar Fragen zu Deinen diversen Kleinen Anfragen als gesundheitspolitische Sprecherin:
1. Im obigen Artikel wird die oft ausweichende, beschönigende und bagatellisierende Haltung der Gesundheitssenatorin in den Fragen auf Deine/Eure Kleinen Anfragen beklagt. Wie ist Deine eigene Einschätzung?
Ich bin jedes Mal wieder enttäuscht, wenn ich die Antworten lese. Das Problem, die Zunahme psychischer Probleme und psychiatrischer Erkrankungen - insbesondere komplexer Problemlagen - bei Kindern und Jugendlichen, scheint mir in der Gesundheitsverwaltung und auch in der Jugend- und Schulverwaltung noch nicht ernst genommen zu werden. Die Versorgungslage wird zu positiv betrachtet und es wird vor allem zu wenig beachtet, dass z.B. im Schulbereich den psychischen Problemlagen nicht adäquat begegnet werden kann und sie sogar teilweise noch verstärkt werden. Die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen sind schwieriger, krankmachender und problematischer geworden. Das zeigt sich in der Zunahme der psychischen Erkrankungen und dem steigenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf.
2. Der Senat spricht von Stärkung und Qualifizierung der Regeleinrichtungen. Was ist damit gemeint und wie ist das z.B. mit den massiven Kürzungen im schulpsychologischen Bereich zu vereinbaren?
Ich würde unter der Stärkung und Qualifizierung der Regeleinrichtungen verstehen wollen, dass die Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch im Bereich Bildung adäquat ausgestattet und die MitarbeiterInnen für psychische Problemlagen sensibilisiert und in die Lage versetzt werden, ihnen auch zu begegnen. Damit vertragen sich weder die Einschränkungen bei den schulpsychologischen Diensten noch der Abbau von Personal in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten oder den Erziehungs- und Familienberatungsstellen, wozu die Bezirke z.B. aufgrund der mangelhaften Finanzzuweisungen gezwungen sind. Die Schulpsychologie wäre eine wichtige Schnittstelle zum Erkennen psychischer Störungen, aber mit der vorhandenen Personaldecke sind zu wenig der Kinder zu errei-chen.
3. In den Antworten des Senats wird vom unterschiedlichen Stand der Netzwerkarbeit in den Berliner Bezirken gesprochen und das "Netzwerk Südwest" als zur Zeit positives Beispiel genannt. Wie arbeitet das Netzwerk Südwest und wie ist diesbezüglich die Si-tuation in Charlottenburg-Wilmersdorf einzuschätzen? Gibt es konkrete Vorstellungen und Pläne seitens der Grünen-Fraktion?
Das Modellprojekt "Kooperation von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe und Schule für Kinder und Jugendliche mit einem fachbereichsübergreifenden, komplexen Hilfebedarf" in der Region Südwest (2005 - 2008) hat zu einem gemeinsames Verständnis für die Problemlagen und besserer Zusammenarbeit geführt. In Helferkonferenzen werden entlang von Falldiagnosen ämterübergreifend Hilfen verbindlich festgelegt. Ähnliche Kooperationsstrukturen gibt es auch in anderen Bezirken wie z.B. Neukölln, Lichtenberg und Charlottenburg-Wilmersdorf. Ein Problem ist allerdings nach wie vor, dass die Zusammenarbeit stark vom Engagement der handelnden Personen abhängt. Für Kooperationen braucht es Zeit und die ist in Vergütungsordnungen und Personalschlüsseln kaum eingerechnet.
4. Wo siehst du weitere Schwerpunkte Deiner Arbeit als eventuell erste grüne Bezirksbürgermeisterin des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf?
Mir ist wichtig, gute Bedingungen zum Aufwachsen für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Das beginnt mit frühen Hilfen rund um die Geburt, Familienbildung und Gesundheitsberatung für Väter und Mütter vernetzt mit den Kindertagesstätten (Stichwort Eltern-Kind- oder Familienzentren) und schließt Spiel- und Bewegungsräume im öffentlichen Raum mit ein. Ein besonderes Anliegen ist mir, die Entwicklung hin zu inklusiven Schulen gut zu begleiten. Kinder mit und ohne Behinderungen sollen gemeinsam in der Schule wohnortnah lernen. Im ersten Schritt sollen dann die sonderpädagogischen Förderzentren für Lernen und Emotional-soziale Entwicklung auslaufen. Das kann aber nur gelingen, wenn die PädagogInnen für den Umgang mit Heterogenität besser qualifiziert sind und die notwendige Assistenz und Unterstützung für die Kinder mit besonderem Förderbedarf und Beratungssysteme für die Schulen auch sichergestellt werden. Der Fehler einer unzureichenden Vorbereitung und Ausstattung wie bei der Einführung der Schulanfangsphase darf nicht wiederholt werden.
Im "Bericht der AG Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie für den Landespsychiat-riebeirat Berlin - Teil II - Ambulante Versorgung" wird empfohlen, die Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen jeweils zur "Chefsache" zu machen. Das würde ich als Bürgermeisterin gerne tun und Charlottenburg-Wilmersdorf zu einem kinder- und familienfreundlichen Bezirk entwickeln.
Elfi Jantzen, ganz herzlichen Dank für das informative Gespräch.
Die Fragen stellte Christiane Erner-Schwab; Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin; niedergelassen im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf;chrernerschwab@aol.com