Zur bestehenden Diskrepanz zwischen Berufs- und Sozialrecht
Der ergänzend gefasste AOLG-Beschluss erfolgte im Anschluss an die Forderung der GMK vom 01.07.2010, den "Master" als Voraussetzung der postgradualen Ausbildung zum Psychotherapeuten/zur Psychotherapeutin gesetzlich festzuschreiben. Auf ihrer 26. Tagung forderte die AOLG das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf, bei der Reform des PsychThG die bisherige Diskrepanz von Berufs- und Sozialrecht zu vermeiden. Diese Diskrepanz ergibt sich aus der höchstrichterlichen Gesetzesauslegung, die zwischen der Eignung eines Psychothera-pieverfahrens als Schwerpunkt in der Ausbildung ("vertiefte Ausbildung") und seiner kassenärztlich relevanten Eignung zur Krankenbehandlung unterscheidet (BSG-Urteile vom 29.10.2009):
Demnach kann ein Psychotherapieverfahren zum Ausbildungsschwerpunkt werden, wenn es wissenschaftlich anerkannt íst und seine Wirksamkeit sowie Anwendungsbreite in der Praxis bewiesen hat. Dazu ist im Zweifelsfall eine gutachterliche Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie nach § 11 PsychThG (WBP) erforderlich (Berufsausbil-dungsrecht = "Berufsrecht"). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) ist es dann dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als dem obersten Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Vertrags-Ärzte, -Zahnärzte und -Psychotherapeuten sowie der Krankenhäuser und Krankenkassen überlassen, nach eigenem Ermessen darüber zu entscheiden, ob dieses Psychotherapieverfahren als für die Krankenbehandlung geeignet gelten und für die Sozialversicherten als kassenärztliche Leistung ("kassenärztliches Richtlinien-Verfahren") finanziert werden kann (sozialrechtliches Berufszu-gangsrecht = "Sozialrecht"). Zutreffend hat der Justiziar der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) dazu bemerkt: "Der Grundsatz, dass das Sozialrecht die berufsrechtlichen Ausbildungsregelungen anerkennt, wird damit auf den Kopf gestellt" (Dr. Martin Stellpflug, Beitrag vom 12.03.2010 in: Bericht der BPtK-Kommission Zusatzqualifizierung vom Mai 2010, S. 43).
Seit Inkrafttreten des PsychThG hat der G-BA keinem einzigen "neuen" Psychotherapieverfahren die Eignung zur Kran-kenbehandlung zugesprochen, so dass es bei den vordem bereits anerkannten Richtlinien-Verfahren Psychoanalytisch begründete Verfahren und Verhaltenstherapie geblieben ist. Eine vertiefte Ausbildung in einem anderen als diesen beiden Richtlinien-Verfahren ist praktisch nicht möglich, und es gibt keine Chance für Nicht-Richtlinien-Verfahren, in der Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten offiziell eingesetzt zu werden.
Gegenwärtig sind von der Diskrepanz zwischen Berufs- und Sozialrecht die Gesprächspsychotherapie und die Systemische Therapie betroffen. Beide Verfahren sind zur vertieften Ausbildung zugelassen, aber vom G-BA nicht als Richtlinien-Psychotherapie anerkannt. Perspektivisch ist diese Situation aber auch für andere Psychotherapieverfahren nicht auszu-schließen (absehbar gegenwärtig für die Gestalttherapie).
Folgen der Diskrepanz von Berufs- und Sozialrecht Beredtes Beispiel für die realen Folgen der beschriebenen Diskrepanz zwischen Berufs- und Sozialrecht ist die Ausbildungssituation in der Gesprächspsychotherapie:
Gesprächspsychotherapie ist bekanntlich ein versorgungsrelevantes Verfahren, dessen Wirksamkeit in vielen empirischen Studien bei Patienten/Patientinnen mit einem breiten Spektrum krankheitswertiger psychischer und psychisch mitbedingter Störungen nachgewiesen ist. Es wurde deshalb von dem für die fachliche Begutachtung von Psychotherapieverfahren zuständigen WBP als wissenschaftlich begründet anerkannt und im Jahre 2002 den zuständigen Länderbehörden die Ausbildung Psychologischer Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie empfohlen. Noch im gleichen Jahr hat sich der Gesundheitsberufe-Ausschuss der AOLG auf die bundesweite Zulassung einer solchen vertieften Ausbildung verständigt. Infolge dessen und in der Erwartung, dass die Aufnahme in den kassenärztlichen Richtlinienkatalog rasch erfolgen wird, hat das Institut für Psychotherapie als staatlich anerkannte Ausbildungsstätte für Psychologische Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen der Universität Hamburg (der traditionellen "Hochburg" der Gesprächspsychotherapie in Deutschland) einen Ausbildungsgang mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie etabliert. Die jeweils angebotenen 15 Ausbildungsplätze waren in den Jahren 2005 bis 2007 vollständig vergeben.
Im Jahre 2008 hat der G-BA der Gesprächspsychotherapie mit Bezug auf eigene, in Fachkreisen inhaltlich und methodisch höchst umstrittene Gutachten die Anerkennung als kassenärztliches Richtlinien-Verfahren (erneut) versagt. Das hatte u. a. zur Folge, dass die an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie begonnenen Ausbildungsgänge für die Phase der praktischen Ausbildung in große Schwierigkeiten gerieten: Die für die Ausbildung erforderlichen supervidierten Therapien wurden nicht kassenfinanziert, die Ausbildungsteilnehmer/-teilnehmerinnen waren auf "Privatpatienten" und Sonderkonditionen angewiesen und konnten somit auch keine für die spätere Versorgungspraxis typischen Erfahrungen sammeln. Zugleich war ihre berufliche Perspektive unklar: Sie absolvierten (und bezahlten) eine Ausbildung ohne die Aussicht auf eine spätere ausbildungskonforme berufliche Tätigkeit. So ist es nicht verwunderlich, dass mehr als die Hälfte der 45 Ausbildungsteilnehmer/-teilnehmerinnen zwecks Aufrechterhaltung ihrer Berufsausübungsperspektive in die Ausbildung in einem der psychotherapeutischen Richtlinien-Verfahren wechselte. Ob und ggf. wann die verbliebenen Ausbildungsteilnehmer/-teilnehmerinnen ihre Ausbildung abschließen und die Approbation erlangen können, ist ungewiss.
Weil die schwerpunktbezogene Ausbildung in einem Nicht-Richtlinienverfahren praktisch nicht oder nur unter kaum lösba-ren Schwierigkeiten möglich ist und weil es arztrechtlich selbstverständlich ist, dass das Sozialrecht dem Berufsrecht folgt (jedenfalls soweit es um den Berufsstatus geht), hat die AOLG das BMG in dem genannten Beschluss ihrer 26. Tagung auch aufgefordert, auf den G-BA dahingehend einzuwirken, dass er die Gesprächspsychotherapie und die Systemische Therapie für die vertragsärztliche Leistungserbringung zulässt. Weil das BMG allerdings insoweit gegenüber dem G-BA kein Weisungsrecht hat, ist das sicher nicht als Lösungsperspektive zu sehen, sondern vielmehr als Ausdruck einer einheitlichen Kritik der AOLG-Mitglieder an der Entscheidung des G-BA und an der Rechtsprechung des BSG zu verstehen.
Stellungnahmen der Fachverbände und der BPtK Der AOLG-Beschluss beruht auf Informationen bzw. Hinweisen, die im Herbst 2010 von den die Gesprächspsychotherapie und die Systemische Psychotherapie vertretenden Fachverbänden ergangen sind und die von der Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation (AVM), dem Ausbildungsverbund Verhaltenstherapie in der Deutsche Gesellschaft für Verhaltens-therapie e.V. (DGVT), der Arbeitsgemeinschaft ‚Ausbildungsinstitute und VPP für wissenschaftlich begründete Psychothe-rapieausbildung’ (AVP) sowie dem Verbund ‚Universitäre Ausbildung für Psychotherapie’ (unith) mit getragen wurden. Der AOLG-Beschluss steht in Einklang mit den vom 16. Deutschen Psychotherapeutentag am 08.05.2010 beschlossenen Grundsätzen einer Ausbildungsreform und folgt der von der BPtK seit Jahren vertretenen Rechtsauffassung.
Die BPtK hat ihn bisher jedoch nicht in ihren am 08.12.2010 dem BMG übergebenen Forderungskatalog zur Novellierung des PsychThG aufgenommen. Sie erklärte dazu, dass die Berücksichtigung des AOLG-Beschlusses die dringend notwendige Reform des Gesetzes erheblich verzögern könnte und dass die AOLG-Initiative den Plänen einer (von der Profession mehrheitlich abgelehnten) universitären Direktausbildung im Fachbereich Psychotherapie Vorschub leiste. Beide Argu-mente können in Fachkreisen nicht nachvollzogen werden. Insbesondere ist der AOLG-Beschluss völlig unabhängig davon, ob es bei der postgradualen Ausbildung bleibt oder ob sich Überlegungen zu einer universitären Direktsausbildung durchsetzen. In beiden Fällen kommt es für die Ausbildung und für die Berufsausübung auf die Anerkennung der Schwerpunktverfahren als Kassenleistung an. Darüber hinaus wird mancherorts angenommen, mit dem AOLG-Beschluss solle der G-BA abgeschafft werden. Das ist nicht der Fall. Es soll vielmehr und lediglich gesetzlich geregelt werden, dass rechtmäßig erworbene Ausbildungsabschlüs-se von Psychotherapeuten (ebenso wie die der Fachärzte) als kassenrechtlicher Berufszugang respektiert werden. Das heißt, die der Approbation zugrunde liegenden Schwerpunktverfahren (die ihrerseits hohen Qualitätsanforderungen unterliegen, vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.04.2009) sollen keiner Zweitprüfung durch den G-BA unterliegen. Unberührt davon bleibt die Regelungskompetenz des G-BA für die vertragliche Berufsausübung. Für das Berufsausübungsrecht der Vertragspsychotherapeuten wird er auch künftig in gleicher Weise zuständig sein wie für das der Vertragsärzte. Ebenso wie im Vertragsarztrecht wird der G-BA allerdings keine Regelungen treffen dürfen, die die Berufsausübung der Psychotherapeuten übermäßig einschränken: So kann es für Vertragspsychotherapeuten keine Eingrenzung der Durchführungsgenehmigung von Psychotherapie auf bestimmte Indikationsspektren geben (wie beispielsweise der Gesprächspsychotherapie auf die Behandlung von Depressionen) und das auch deshalb, weil es keine wissenschaftlich und empirisch begründete verfahrensbezogene Differenzialindikation gibt.
In den letzten Monaten wurde die BPtK u. a. von 19 Psychotherapieverbänden in einer Resolution vom 05.03.2011 aufgefordert, die Initiative der Länder aufzugreifen und ihre dem BMG übermittelten Novellierungsvorschläge im Sinne des AOLG-Beschlusses zu ergänzen. Diese Forderung haben zwischen Dezember 2010 und Februar 2011 auch sieben (dazu gehört die Berliner Kammer) von elf Landeskammern an die BPtK herangetragen. Entsprechende weitere Bemühungen gibt es u. a. auch seitens der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) und der Deutschen Psy-chologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG), die ihre Tätigkeit nach der 2010 zunächst beschlossenen Auflösung nun im Interesse und mit dem Ziel der sozialrechtlichen Anerkennung der Gesprächspsychotherapie engagiert und aktiv fortsetzt.
Konsequenzen der AOLG-Initiative Eine Korrektur der Bestimmungen des PsychThG im Sinne der AOLG-Initiative soll - wie ausgeführt - die derzeit beste-hende Diskrepanz zwischen Berufs- und Sozialrecht aufheben. Damit konkretisiert sie den Grundsatz, dass das Sozialrecht die Status begründenden Ausbildungsregelungen des Berufsrechts zugrunde legt. Das bedeutet zugleich die Übernahme einer Maxime des Vertragsarztrechts auch in das Psychotherapeutenrecht: "Sozialrecht folgt dem Berufsrecht".
Für die Ausbildung künftiger Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen folgt daraus, dass die Interessenten eine Ausbil-dung in allen staatlich zugelassenen Ausbildungsverfahren frei wählen können - und zwar unabhängig davon, ob die Aus-bildung postgradual oder als Direktausbildung mit anschließender Weiterbildung konzipiert ist. Somit bedeutet die AOGL-Initiative für den Berufsstand der Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen eine Angleichung an das Arzt-Recht, ohne die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ausbildungswege zu tangieren. Mit der Erweiterung der Ausbildungsschwerpunkte wird zugleich im Versorgungssektor die vielfach proklamierte und angestrebte "psychotherapeutische Vielfalt" verbessert. Dass diese therapeutische Vielfalt im Interesse der Patien-ten/Patientinnen dringend notwendig ist, zeigen - wiederum beispielhaft - Ergebnisse empirischer Versorgungsstudien, die belegen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von psychotherapiebedürftigen Patienten/Patientinnen erfolgreich mit Gesprächspsychotherapie behandelt werden kann, nachdem vorangegangene Behandlungen mit Richtlinien-Verfahren unbefriedigend oder gar erfolglos geblieben sind.
Insofern hat der AOLG-Beschluss sowohl eine grundsätzliche berufsrechtliche als auch eine wichtige gesundheitspolitische Bedeutung und verdient die Unterstützung der gesamten Profession und ihrer Berufsstandsvertretungen. Die mit der Realisierung der AOLG-Initiative herbeizuführende Angleichung des Psychotherapeuten-Rechts an das Arzt-Recht liegt im Interesse des Berufsstandes der Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen und ist für eine angemessene Versorgung der Bevölkerung mit einer Vielfalt von wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren unbedingt erforderlich.
Quellenhinweis:
Die in diesem Beitrag zusammengefassten Informationen beruhen auf Texten, die im internet ausführlich in den homepages vorrangig der AOLG und des G-BA, der BPtK sowie der DPPG und der GwG veröffentlicht sind.
Autorin:
Univ.-Prof. a. D. Dr. habil. nat. Inge Frohburg ehemals Lehrstuhl für Psychotherapie am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin Anschrift: Ehrenfelsstr. 41, 10318 Berlin mailto inge.frohburg@hu-berlin.de