Redaktionsmitglied und niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christiane Erner-Schwab befragte Klaus Seifried zur aktuellen Schulentwicklung.
Ch.E.-S: Gestern wurde bekannt, dass sich ein Schüler das Leben genommen hat, weil er beim MSA durchgefallen war. Hätte vielleicht eine zeitnahe und angemessene schulpsychologische Betreuung diesen schrecklichen Schritt verhindern können? Wie schätzen Sie ganz allgemein die Situation der Berliner Schulpsychologie ein, nachdem die entsprechenden Mittel innerhalb der letzten Jahre drastisch gekürzt wurden?
K.S.: Persönliche Krisen und Verzweiflungstaten wie Suizid wird es immer geben. Deutschland ist aber im internationalen Vergleich schulpsychologisches Entwicklungsland. Während ein Schulpsychologe in Deutschland durchschnittlich 10.000 Schüler betreuen muss, in Großstädten wie Berlin sind es ca 5.000, ist das Verhältnis z.B. in Moskau 1:400, in Dänemark 1: 800 und in den USA 1: 1000. Es wäre notwendig , dass jeder Schüler eine individuelle Lernberatung erhält, dass an jeder Schule ein Schulpsychologe im Team mit Sozial- und Sonderpädagogen arbeitet und Schulpsychologen nicht erst dann aktiv werden, wenn schon eine Problemlage eingetreten ist.
Heißt das, der Präventionsgedanke ist in den Hintergrund getreten?
Wir sind Anlaufstelle für schulische Lern- und Verhaltensprobleme - sowohl für Schüler als auch für Lehrer - intervenieren im Krisenfall und können maximal eine Kurzzeittherapie anbieten. Vor den Kürzungen in den letzten zehn Jahren konnten wir die Betroffenen auch längerfristig therapeutisch betreuen. Zu unserer Arbeit gehören auch Supervision, Coaching und Fortbildungen für Lehrer. Im Sinne von Prävention ist es wichtig, dass an Schulen mehr diagnostische Kompetenz, Beratung und individuelle Förderung von Schülern stattfindet. Je früher ein Problem erkannt wird, um so leichter ist es, eine Lösung zu finden.
Nun ist nicht nur die Schulpsychologie, sondern die Schule allgemein im nunmehr sparsamen Berlin von Kürzungen betroffen, so dass man davon ausgehen kann, dass die größtenteils überalterte Lehrerschaft wenig zusätzliche Energien aufbringt, sich diesbezüglich fortbilden zu lassen.
Das stimmt nur teilweise. In den letzten Jahren hat es in Berlin viele sinnvolle Reformen gegeben: Der Ausbau der Ganztagsschulen, jahrgangsübergreifendes Lernen in der Schulanfangsphase der Grundschulen, die Integration von Schülern mit Behinderungen (Inklusion), die Sekundarschulreform u.v.a. Das stellte große Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer. Allerdings ist Bildung in Deutschland unterfinanziert. Während in Kanada oder den skandinavischen Ländern 7-8% des Bruttoinlandprodukts für Bildung ausgegeben werden, sind es in Deutschland nur 4,6%. Das macht die Umsetzung von Reformen schwierig.
Stichwort "Inklusion". Das Konzept beinhaltet ja, dass z.B. verhaltensauffällige oder leistungsschwache Schüler in so genannten temporären Lerngruppen bzw. nach einem entwicklungspädagogischen Ansatz gefördert werden. Welche Vorteile sehen Sie in dieser Weiterentwicklung des Integrationsgedankens?
Ausgangspunkt ist das Anliegen, jedem Kind eine individuelle Förderung und soziale Teilhabe zu ermöglichen, die ihm die Entwicklung eines eigenen Lerntempos gestattet. Kinder haben unterschiedliche Fähigkeiten, die mit entsprechend differenzierten Angeboten gefördert und entwickelt werden sollten. Heterogenität ist der Normalfall. Heute werden in Deutschland noch rund 80% der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in Sonderschulen unterrichtet. Ziel einer inklusiven Schule wird es sein, dass rund 80% integrativ unterrichtet werden und nur noch ein kleiner Teil Sonderschuleinrichtungen besucht, wie dies z.B. in manchen Regionen in Berlin, z.B. in Schöneberg schon Realität ist. Hierzu brauchen wir eine verstärkte Teamarbeit in den Schulen und eine enge Vernetzung und Kooperation von Schule, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sonderpädagogik und Schulpsychologie.
Sprechen wir vom Problem des Schulschwänzens, das in einer massiven Ausprägung 5-10 % der Schüler betrifft. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für eine fehlende Anbindung an die Schule?
Meistens ist Schuldistanz oder Schulvermeidung gekoppelt mit unterschiedlichen anderen Störungen, wie sozialen Ängsten, Leistungsversagen, psychosomatischen Erkrankungen, Teilleistungsschwächen, Delinquenz o.ä. Eine wichtige Ursache sehe ich darin, dass die Familie ihre Integrations- und Orientierungskraft verliert. Eltern haben oft nicht die Kraft, ihren Kindern Grenzen zu setzen oder Halt zu geben, wenn sie selbst sozial isoliert, arbeitslos oder krank sind. Die Schulen sind zu wenig darauf vorbereitet, auch Schulversager zu integrieren, ihnen Anerkennung und Halt zu geben.
Die soziale Segregation nimmt zu,die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. In vielen Migrantenfamilien ist Bildungserfolg kein wichtiges Lebensziel. Anderseits können überrhöhte Erwartungen und Leistungsdruck Ängste der Kinder vor der Schule auslösen.
Sie erwähnten, dass es in manchen Teilen Berlins schon eine sehr gute Entwicklung in die richtige Richtung gibt und strahlen trotz finanzieller und anderer Widrigkeiten insgesamt sehr viel Optimismus aus.
In der Tat bin ich grundsätzlich optimistisch und könnte wohl sonst meine Arbeit nicht machen. Ich versuche in meiner Arbeit als Schulpsychologe die Stärken von Kindern und Jugendlichen zu sehen. Es ist wichtig, Schüler, Eltern und Lehrer psychologisch zu unterstützen und Entwicklungen zu fördern. Dabei hilft hier im Bezirk Tempelhof-Schöneberg eine gute Kooperation mit der Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Sonderpädagogik und mit niedergelassenen Therapeuten. Wir brauchen abgestimmte, effektive Hilfen und Maßnahmen und eine resortübergreifende Verantwortung der Helfer, wie wir das im Modellprojekt Südwest erproben.
Herr Seifried, vielen Dank für das sehr informative Gespräch und viel Erfolg in der weiteren Arbeit.