Übersicht
- Einleitung
- Was können wir von der DGVU-Tagung mitnehmen – eine Bestandsaufnahme
- Fragestellungen für die weitere Arbeit der Kommission
- Tagungsbeiträge
- Psychosoziale Risikofaktoren für depressive Symptomatik in der Arbeitswelt
- Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen inder Arbeitswelt am Beispiel von Depressionen
- Psychische Krisen – Vorstellung und Diskussion betrieblicher Angebote aus Sicht des Arbeitsschutzes
- Peers at work – Beratung auf Augenhöhe
- Chronische Depression – Umgang am Arbeitsplatz, Behandlung, Rehabilitation
- Sensibilisierungsstrategien für psychische Störungen am Arbeitsplatz
- Betriebliche Wiedereingliederung von Beschäftigten mit Depressionen
Einleitung
Die 6. Fachtagung: "Schnittstellen zwischen Prävention, Rehabilitation und Psychotherapie - Depressionen in der Arbeitswelt" fand in Dresden am 27/28.04.23 statt. Sie wurde von der Deutschen Unfallversicherung, der Berufsgenossenschaft und der Bundespsychotherapeu-tenkammer organisiert und beschäftigte sich in diesem Jahr mit dem Thema „Depression in der Arbeitswelt“.
Die Kommission Betriebliche Prävention der Berliner Psychotherapeutenkammer war mit drei von fünf Mitgliedern vertreten: Ute Meybohm (U.M.: Vorstands- und Kommissionsmitglied), Sandra Cotta (S.C.: Kommissionsmitglied), Archontula Karameros (A.K.: Kommissionsmitglied).
Wir haben Eindrücke über dieses spannende Arbeitsfeld gesammelt, die wir gern an interessierte Kammermitglieder weitergeben möchten. Im 1. Teil werden wir unsere Eindrücke zusammenfassen und auswerten. Im 2. Teil möchten wir die Inhalte der von uns ausgewählten Vorträge und Workshops vorstellen, an denen wir teilgenommen haben,.
Diese Inhalte bezogen sich auf den fachlichen Austausch zwischen den Akteur*innen aus den Bereichen Prävention, Behandlung und Rehabilitation. Mit ihrer medizinischen, psychotherapeutischen und betrieblichen Kompetenz wurden schwerpunktmäßig die Fragen erörtert:
- Wie kann mit den steigenden Arbeitsunfähigkeiten durch Depressionen in der Arbeitswelt umgegangen werden?
- Durch welche präventiven Maßnahmen im Betrieb und psychotherapeutische Behandlung kann erreicht werden, dass Arbeitnehmer*innen berufsfähig bleiben?
- In Vorträgen und Workshops wurde dazu der State-of-the-Art hinsichtlich wissenschaftlicher Erkenntnisse vorgestellt.
- Anhand bewährter Praxisbeispiele wurden die Möglichkeiten der primären, sekundären und tertiären Prävention aufgezeigt.
Die Ziele, die sich die 6. Fachtagung gesteckt hatte, konnten erfolgreich umgesetzt werden. Dies wurde auch in der abschließenden Diskussionsrunde bekundet, an der sich sowohl Referent*innen als auch Teilnehmer*innen der Tagung beteiligt haben.
Als spannend an der Tagung wurde die die Vielfalt der Ansätze und die Unterschiedlichkeit der Perspektiven gesehen, und diese in einen gemeinsamen Austausch zu bringen. Die Bedeutung der Arbeit für die seelische Gesundheit wurde herausgestellt und gleichzeitig die Risiko-/Gefährdungsfaktoren, psychisch zu erkranken, genauer unter die Lupe genommen. Es bestand an beiden Tagen viel Platz zum regen Austausch untereinander. Möglichkeiten zur Vernetzung konnten genutzt werden. Unter den Teilnehmenden wurde auch von dem Patientenvertreter der Depressionsliga das Bestreben zur Entstigmatisierung von Depression in der Arbeitswelt als positiv hervorgehoben, das in mehreren Vorträgen und Workshops mitaufgegriffen worden war.
Nicht zuletzt war auch die erfolgreiche Bestandsaufnahme hinsichtlich der Zielsetzung der Tagung auf die sehr gelungene Moderation der Tagungsleitung zurückzuführen, die von einer Vertreterin der BPtK und einer Vertreterin der DGUV gestaltet wurde und maßgeblich zu einer sehr angenehmen Arbeitsatmosphäre beigetragen hatte.
Eine kritische Bestandsaufnahme aus unserer Sicht mit sich daraus ergebenden Fragestellungen für die weitere Arbeit in der Kommission Betriebliche Prävention werden wir im folgenden 1. Teil darlegen.
Was können wir von der DGVU-Tagung mitnehmen – eine Bestandsaufnahme
Spannend und inspirierend in den Vorträgen und Workshops war die Vielfalt der Ansätze und die Unterschiedlichkeit der Perspektiven (primäre Prävention im Arbeitsschutz, Behandlungsmethoden und Betriebliche Eingliederungsmaßnahmen ggf. Rehabilitation). In unserer kritischen Würdigung im Allgemeinen beziehen wir uns auch auf ausgewählte Vorträge und Workshops, die im Teil 2 näher vorgestellt werden. Das gemeinsame Anliegen bestand darin, über psychische Erkrankungen wie die Depression im Betrieb aufzuklären und zu entstigmatisieren. Somit soll ein Klima für die Mitarbeitenden geschaffen werden, über Stress, psychische Belastungen frühzeitig sprechen zu und sich ggf. professionelle Hilfe zu holen.
Gleichwohl betrachten wir kritisch die verwirrende Begrifflichkeit der Ersthelfer im Rahmen der primären Prävention. Beispielsweise wird mit dem Begriff der psychologischen Ersthelfer in dem Workshop „Psychische Krisen – Vorstellung und Diskussion betrieblicher Angebote aus Sicht des Arbeitsschutzes“ suggeriert, dass es sich hier um eine professionelle psychologische Hilfe handelt. Auch wenn Laienhelfer geschult werden in Psychoedukation, zu psychischen Erkrankungen und in der psychologischen Gesprächsführung, um Notfallhilfe leisten zu können, fehlen bezogen auf Auswahl, Schulung und Qualitätskontrolle Standards und gesetzliche Verankerungen.
Demgegenüber ist das Konzept im Workshop „Beratung auf Augenhöhe, Peers at work, kollegiale Depressionsbegleiter bei der Deutschen Bahn“ ein angemessener niedrigschwelliger Ansatz, um zur Entstigmatisierung psychischer Probleme im Betrieb nachhaltig unter den Mitarbeiter*innen beizutragen. Allerdings wäre es sehr wünschenswert, wenn auch die zukünftigen Mitarbeiter*innen - die Auszubildenden - in das Programm direkt oder indirekt einbezogen werden könnten.
Die Notwendigkeit zur Betrieblichen Beteiligung an der sekundären Prävention (Psychotherapie) wurde auf der DVU-Tagung von Dipl.-Psych. Dr. Stefan Leidig in seinem Workshop „Sensibilisierungsstrategien für psychische Störungen am Arbeitsplatz“ aufgegriffen. Sein Fazit lautet, dass insbesondere die Prävention psychischer Störungen mit der Enttabuisierung psychotherapeutischer Leistungen für Betriebe einhergehen muss. In diesem Zusammenhang möchten wir als Beispiel Employee Assists Programme (EAP) anführen, die allerdings nicht auf der Tagung vorgestellt worden sind. Teil solcher Programme ist oft mit betroffenen Mitarbeiter*innen zeitnah zu prüfen, ob eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich ist.
Herausforderungen sind auch bei tertiärer Prävention, der Betrieblichen Wiedereingliederung von Beschäftigten mit Depressionen, gegeben. Hier ist die Qualität und der Einsatz zur Schnittstellenarbeit zwischen den betrieblichen Expert*innen und den medizinisch-therapeutischen Expert*innen entscheidend. Darauf gingen Dr. Uta Wegewitz und Ute B. Schröder, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, in ihrem Vortrag näher ein. Gute Absprachen und kurze Wege zwischen geschulten Betriebsärzten und externen medizinisch-therapeutischen Experten sind erforderlich, um geeignete therapeutische Interventionen auf den Arbeitsplatzbezug zuschneiden zu können.
Fazit:
Wie auf der Tagung deutlich wurde, fehlt in Betrieben für den Umgang mit psychischen Erkrankungen generell und Depressionen im besonderen psychotherapeutische Kompetenz. Im Bereich von externer Kompetenz für Betriebe fehlen ausreichend Psychotherapeut*innen, die im Feld der Betrieblichen Prävention ihre Expertise einbringen können bzw. möchten und Führungskräfte für psychisches Leiden sensibilisieren, schulen und beraten wollen.
Welche Fragestellungen leiten wir daraus für die weitere Arbeit der Kommission ab:
- Wie kann die vielbeschworene Entstigmatisierung für Betroffenen mit psychischen Problemen bestmöglich innerhalb und außerhalb des Betriebs umgesetzt werden?
- Wie kann der Link zwischen primärer Prävention und tertiärer Prävention (Wiedereingliederung) durch vermehrte und optimalerweise durch eine regelhafte Beteiligung der sekundären Prävention (Psychotherapie) ergänzt werden?
- Wie kann die interdisziplinäre Vernetzung und Zusammenarbeit im Rahmen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention besser gelingen? Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen?
In welche Arbeitsprojekte der Kommission können diese Fragestellungen einfließen – zur Bestimmung einer vorläufigen Themensammlung?
- Die Kommission hat sich in den letzten zwei Legislaturperioden mit der Schnittstelle Psychotherapie und betriebliche Gesundheitsfürsorge beschäftigt. Unser Schwerpunkt in Berlin lag besonders bei Auszubildenden und deren psychischen Belastungen in Zeiten der Pandemie. Hierfür hatte es eine Fortbildung für Ausbilder*innen gegeben, bei der unser PAC-Curriculum zur Sensibilisierung und Stärkung der Resilienz vorgestellt wurde. Der Schwerpunkt Auszubildende blieb bei den Tagungsvorträgen unberücksichtigt. Lediglich die Deutsche Bahn berichtete auf unsere Nachfrage, dass sie in Betracht ziehen würde, die Zielgruppe der Azubis in den Fokus zu stellen. Interessant könnte dabei sein, ein Konzept für Peerberatung für Azubis in Zusammenarbeit mit Führungskräften und Ausbilder*innen und Jugendlichen zu entwickeln. Hier ist die Kommission angeregt, für das Konzept „Peers at work“ mit dem Psychosozialen Dienst der Bahn in Kontakt und in einen Austausch zu treten.
- Für die geplante Veranstaltung der PtK Berlin zur betrieblichen Prävention, deren Ziel es ist, im Berliner Raum Betriebe und Psychotherapeut*innen in Kontakt zu bringen, werden wir auch Referent*innen der Tagung ansprechen, an unserer Veranstaltung als Expert*innen teilzunehmen.
- Zum Aufbau eines Netzwerkes von Psychotherapeut*innen, die in der Betrieblichen Prävention tätig sind oder zukünftig sein wollen, werden wir auch Kontakt zum AK der privaten Praxen aufnehmen und hoffen, dass hier Interessierte zu finden sind, die neben der Behandlung auch Zeit und Interesse für die Betriebliche Prävention haben, vorausgesetzt diese wird angemessen vergütet. Diese Kolleg*innen haben oft schon Erfahrungen mit EAP und Psyrena Programmen, die eingesetzt werden in der Prävention, der Kurz-Therapie/Coaching und der Rehabilitation.
Für interessierte Leser*innen möchten wir nun im 2. Teil von uns ausgewählte und kommentierte Beiträge eingehender beleuchten unter Berücksichtigung der Arbeitsfelder, die sich jeweils für Psychotherapeut*innen ergeben.
Beginnend mit dem Beitrag aus der Forschung werden wir die Beiträge zur primären Prävention, zur sekundären und zur tertiären Prävention vorstellen.
Wissenschaftlicher Vortrag: "Psychosoziale Risikofaktoren für depressive Symptomatik in der Arbeitswelt", Dr. Hermann Burr, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA
Der Vortrag befasste sich mit dem Stand der Forschung zu psychosozialen Risikofaktoren für depressive Symptomatik in der Arbeitswelt. Dr. Burr stellte die Datenlage anhand von fünf Reviews epidemiologischer Längsschnittstudien aus den letzten 30 Jahren vor. Diese sind: Arbeitsbedingungen von Theorell et al. 2015 mit 59 eingeschlossenen Artikeln; Job Strain von Madsen et al. 2017 mit 14 Kohorten; Effort-Reward-Imbalance (ERI) von Rugulies et al. 2017 mit sieben Artikeln; Prekäre Arbeit von Rönnblad et al. 2019 mit 11 Artikeln und Psychosoziale Arbeitsbedingungen von Seidler et al. 2022, die 47 Artikel berücksichtigt.
Dr. Burr stellte dar, dass eine Vielzahl von Risikofaktoren in den jeweiligen Arbeiten berücksichtigt wurden. (z. B. Job Strain, Effort-Reward-Imbalance, Physische (körperliche) Anforderungen, Quantitative Anforderungen, Emotionale Anforderungen, Kontrolle, Entwicklungsmöglichkeiten, Soziale Unterstützung, Soziales Klima ‚Sozialkapital‘ (u. a. Vertrauen), Gerechtigkeit, Konflikte am Arbeitsplatz, Mobbing, Drohungen, Gewalt, Arbeitsplatzunsicherheit, Lange Arbeitszeiten, Unregelmäßige Arbeitszeiten). Vier Reviews konnten hohe Evidenz bzw. statistische Signifikanz für Job Strain (hohe Anforderungen bei gleichzeitig geringen Einflussmöglichkeiten) und ERI, auch bekannt als Gratifikationskrisen (hohe Anforderungen bei geringer Entlohnung), nachweisen - die Arbeit zu prekärer Arbeit von Rönnblad blieb zu diesen Faktoren ohne verwertbare Ergebnisse. Aus zwei der Übersichtsarbeiten (Thorell und Seidler), ergeben sich weitere erhöhte Risiken für die Entwicklung von Depressionen in Bezug auf quantitative Anforderungen, Entscheidungsspielraum/Kontrolle, soziale Unterstützung und Arbeitsplatzunsicherheit. Mögliche weitere Risikofaktoren, auf die die Arbeiten hinweisen, sind geringes Vertrauen/Ungerechtigkeit, Konflikte am Arbeitsplatz, Mobbing und lange Arbeitszeiten. Diese sind jedoch aufgrund zu weniger Studien, uneinheitlicher Methodik oder inkonsistenter Ergebnisse nicht quantifizierbar. Schlussfolgerungen: Für Job Strain und Gratifikationskrisen gibt es also klare Belege. Viele andere Faktoren, die einen Einfluss haben könnten, wie z. B. Führungsqualität und -stil, Gewalt, sexuelle Belästigung etc. sind noch nicht ausreichend erforscht.
Dr. Burr schloss seinen interessanten Vortrag mit dem Fazit, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eine Bedeutung für die Entstehung depressiver Symptome haben, dass aber weitere Forschung notwendig ist. Er rief auch dazu auf, Datenschutzbedenken zu überdenken und der Forschung mehr Daten zur Verfügung zu stellen, da es nicht ethisch sei, nicht zu forschen. Nur so könnten gezielte evidenzbasierte Maßnahmen gegen arbeitsbedingte Risikofaktoren entwickelt werden.
(S.C.)
Vortrag zum Thema „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in der Arbeitswelt am Beispiel von Depressionen“, Dr. Alžběta Jandová, Aufsichtsperson BGW
Frau Jandova ist als Aufsichtsperson in der Berufsgenossenschaft (BWG) Dresden für den Gesundheitsdienst und für die Wohlfahrtspflege im Präventionsdienst tätig. Sie hielt am 27.04. auf der 6. DGUV-Tagung einen Vortrag zu dem Thema "Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in der Arbeitswelt - am Beispiel von Depressionen". Ihr Vortrag beleuchtete die Schnittstellen zwischen Prävention, Rehabilitation und Psychotherapie. Dabei griff sie Fragen auf, die auf der gesamten Tagung einen großen Raum einnahmen:
- Gibt es arbeitsbedingte Risiken für die Entwicklung von Depression?
- Können solche Gefährdungen systematisch angegangen werden?
- Welche präventiven Gestaltungsmöglichkeiten gibt es im Unternehmen?
- Was tun, wenn im Unternehmen jemand psychisch erkrankt?
- Welche Unterstützung können Betroffene und Unternehmen erhalten?
Zu den Fragen der arbeitsbedingten Risiken für die Entwicklung von Depression und wie Gefährdungen systematisch angegangen werden können, wies sie zunächst auf das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG nach § 3) und auf die dazugehörigen Grundpflichten des*der Arbeitgeber*in hin, entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bereitzustellen. Sie teilen sich zweifach auf:
1.) §4 Allgemeine Grundsätze
- Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermeiden bzw. verbleibende Gefährdung möglichst gering halten
- Maßnahmenhierarchie: (S)TOP
- Berücksichtigung besonderer Personengruppen
2.) §5 Beurteilung der Arbeitsbedingungen
…Eine Gefährdung kann sich ergeben durch psychische Belastung bei der Arbeit
Eine Gefährdungsbeurteilung bei den betrieblichen Mitarbeiter*innen erfolgt in 7 Schritten:
Bei der Frage nach den präventiven Gestaltungsmöglichkeiten im Unternehmen ist von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen, wenn in den aufzuführenden Gestaltungsbereichen Defizite vorherrschen. Es kann dann von psychischen Belastungen für betroffene Mitarbeiter*innen ausgegangen werden. Nicht selten gehen in Unternehmen mehrere Gestaltungsbereiche in negativer Hinsicht ineinander über. Kommt der Gestaltungsbereich „soziale Beziehungen“ als Belastungsfaktor noch hinzu oder besteht fort, ist eine psychische Überlastung für den*die Mitarbeiter*in vorhersehbar, die zu einem vorübergehenden oder auch fortdauernden Arbeitsausfall führen kann. Daher werden Unternehmen zur Beachtung ihrer Verantwortlichkeit aufgefordert, bei sich sinnvolle präventive Gestaltungsmöglichkeiten bereitzustellen, die eine Förderung der einzelnen Gestaltungsbereiche begünstigen.
Gestaltungsbereich „Soziale Beziehungen“
Es ist von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen, wenn…
- unzureichende Möglichkeiten zum sozialen Austausch
- fehlende Rückmeldung und Anerkennung
- mangelnde soziale Unterstützung (z.B. fehlende Hilfeleistung, kein Zuspruch)
- häufige Konflikte, Gewalt und destruktives Verhalten (Herabwürdigung, Bloßstellen, Beschimpfen, Bossing)
- Zulassen von destruktivem Verhalten
Aber auch der Gestaltungsbereich Arbeitszeit kann auf Dauer zu erheblichen psychischen Belastungen führen, wenn folgende Kriterien nicht erfüllt werden.
Gestaltungsbereich „Arbeitszeit“
Dauer:
- Dauer an sich
- Dauer besonders herausfordernder Tätigkeit
Erholungszeiten:
- unzureichendes Pausenregime/Verkürzung Ruhezeit
- erweiterte berufsbezogene Erreichbarkeit (z. B. Rufbereitschaft, mobile Arbeit/Homeoffice)
Schichtarbeit:
- Arbeit an Sonn-und Feiertagen
- Nachtarbeit
- ungünstig gestaltete Schichtarbeithtarbeit
- mangelnde Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeit (z. B. kurzfristig erforderliche Überstunden durch Vertretung, Termindruck)
- unzureichende Einflussmöglichkeit auf Dauer, Lage oder Flexibilität der Arbeitszeit (z. B. Arbeit auf Abruf)
Vorhersehbarkeit – Planbarkeit:
- mangelnde Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeit (z. B. kurzfristig erforderliche Überstunden durch Vertretung, Termindruck)
- unzureichende Einflussmöglichkeit auf Dauer, Lage oder Flexibilität der Arbeitszeit (z. B. Arbeit auf Abruf)
Es ist von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen, wenn im Gestaltungsbereich Arbeitsorganisation Mängel vorherrschen. Zu ihnen gehören:
Gestaltungsbereich „Arbeitsorganisation“
Arbeitsintensität
- Ungleichgewichte von Arbeitsmenge, Aufgabenvielfalt und -komplexität und verfügbarer Zeit (zu hohe Arbeitsintensität, Zeitdruck)
Störungen, Unterbrechungen
- häufige oder langandauernde Unterbrechungen und Störungen der Arbeit
- fehlende Nachvollziehbarkeit der Arbeitsabläufe
Kommunikation, Kooperationen
- unzureichende Möglichkeiten zum fachlichen Austausch, zur Abstimmung, Zusammenarbeit und Unterstützung (z. B.Einzelarbeitsplatz, bei mobilem Arbeiten, Homeoffice)
Kompetenzen, Zuständigkeiten
- unklare Kompetenzen (i. S. v. Berechtigungen, Befugnissen), Verantwortungsbereiche und Rollen
- fehlende oder zu eng begrenzte Zuständigkeiten/Befugnisse
- widersprüchliche Arbeitsanforderungen
Es ist von einer Gefährdung durch psychische Belastung bei mangelhafter Abhilfe auszugehen, wenn der Gestaltungsbereich „Arbeitsumgebung“ unzureichend abgedeckt ist.
Gestaltungsbereich „Arbeitsumgebung“
Lärm, physikalische, chemische und biologische Faktoren
- Lärm, ungünstige bzw. störende Hintergrundgeräusche
- klimatische Arbeitsumgebung
- unzureichende/ungünstige Beleuchtung
- störende bzw.beeinträchtigende Gerüche
- Umgang mit gefährlichen biologischen oder chemischen Stoffen
Ergonomische Faktoren chemische und biologische Faktoren
- räumliche Enge, ungünstig bemessene Arbeitsräume und Arbeitsplätze
- ungünstige ergonomische Gestaltung
Es ist zudem von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen, wenn im Gestaltungsbereich Arbeitsmittel den Betriebsangehörigen eine mangelhafte Ausrüstung zur Verfügung steht. Sie bezieht sich auf …
Ergonomische Faktoren
Gestaltungsbereich „Arbeitsmittel“
Arbeitsmittel
- ungeeignete, fehlende, kaputte Arbeitsmittel (z. B. Werkzeuge, Maschinen, PC-Hard- und Software)
- eingeschränkte Verständlichkeit und Bedienbarkeit der Arbeitsmittel und der Schutzeinrichtungen
- unzureichende Gestaltung von Signalen und Hinweisen
Persönliche Schutzausrüstung
- ungünstige Belastung, die durch die Verwendung der persönlichen Schutzausrüstung neu entsteht
Zu der daran anschließenden Fragestellung „Was tun, wenn im Unternehmen jemand psychisch erkrankt?“ werden von der BGW in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) Hilfestellungen formuliert, die sich auf Handlungsleitfäden für Führungskräfte beziehen.
Frau Jandova weist in ihrem Vortrag darauf hin, dass eine individuelle Gefährdungsbeurteilung bei Depression bei folgenden zu prüfenden Tätigkeiten angesagt ist:
- Arbeiten mir unregelmäßigen Arbeitszeiten (z. B. Schichtdienst)
- Tätigkeiten im Nachtdienst
- Arbeiten mit hoher Stressbelastung (Zeitdruck, Lärm, Unterbrechungen)
- Tätigkeiten, die eine schnelle Reaktion erfordern (z. B. Auto fahren) #
- Anlage 4 Fahrerlaubnisverordnung (FeV)
- Auswirkung der Medikamentenbehandlung beachten
- Tätigkeiten mit hoher Selbst-und/oder Fremdgefährdung (z. B. Steuern von Anlagen/Maschinen, Arbeiten mit Absturzgefahr)
Zur Frage der Unterstützungsmöglichkeiten für Führungskräfte und Betroffene werden von der BWG Dresden verschiedene Beratungsangebote durchgeführt. Zu ihnen gehören:
- BGW Organisationsberatung
- Trainings / Qualifizierungen
- Informationsmaterialien
In eintägigen Workshops (7 Stunden zzgl. Pausen) werden auch „Strategietage Psyche“ angeboten. Sie richten sich an verschiedene Zielgruppen:
- Geschäftsführung
- Führungskräfte aller Ebenen
- Arbeitsschutzexperten wie die Fachkraft für Arbeitssicherheit, eine Person aus dem betriebsärztlichen Dienst
- Betriebliche Interessenvertretung
Weitere Beratungsangebote für Führungskräfte und Beschäftigte beziehen sich auf Arbeitssituationsanalysen, die in Präsenz, in der Online-Version und auch in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) stattfinden.
www.bgw-online.de (Suchbegriff: Seminarverzeichnis)
(A.K.)
Workshop zum Thema „Psychische Krisen – Vorstellung und Diskussion betrieblicher Angebote aus Sicht des Arbeitsschutzes“
Referentinnen waren Sonja Wittmann, Unfallkasse Rheinland-Pfalz und Jasmine Kix von der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft gesetzliche Unfallversicherung VBG - Bezirksverwaltung Hamburg.
Bezogen auf die psychische Gefährdungsanalyse im Betrieb hat die Deutsche Gesellschaft der Unfallversicherung für Betriebe in ihren „Information 206-030 206-030 Umgang mit psychisch beeinträchtigten Beschäftigten“ einen Handlungsleitfaden für Führungskräfte in Bezug auf psychische Krisen herausgegeben mit folgenden Empfehlungen:
- Akute psychische Krisen stellen sowohl eine Gefahr für Betroffene als auch für deren soziales Umfeld dar. Derartige Notfallsituationen kommen zwar selten vor, erfordern aber ein sofortiges Eingreifen und Handeln.
- Die oder der Mitarbeitende ist in ihrer oder seiner Verwirrtheit und Verzweiflung zu akzeptieren und darf nicht allein gelassen werden.
- Eventuell geäußerte Suizidgedanken sind unbedingt ernst zu nehmen.
- Gegebenenfalls ist professionelle Hilfe zu organisieren: Rettungsdienst (Telefon 112), Polizei (Telefon 110), sozialpsychiatrischer Notdienst (regionale Anlaufstellen).
Diese bildeten die Grundlage für die zwei vorgestellten Modelle, die im Rahmen des psychischen Arbeitsschutzes angewendet werden können:
- Mental Health First Aid Kurse (MHFA) für psychische Gesundheit wurden ursprünglich in Australien entwickelt und angewendet. Sie werden hier in Deutschland vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim verbreitet in einer bundesweiten Ausbildung von Instruktoren und Instruktorinnen.
Der Leitsatz dieser Ausbildung besagt, dass jeder Mensch Erste Hilfe für psychische Gesundheit in seinem Umfeld leisten kann, so wie es in den Erste-Hilfe-Kursen für körperliche Notfallversorgung der Fall ist. Bei den MHFA liegt der Fokus im Erkennen und Umgang mit psychischen Krisen (außer Trauma) in Zusammenhang mit psychischen Störungen. Kursinhalte sind Informationen über ausgewählte psychische Störungen und Vermittlung und Übung eines zentralen Prinzips zur Ansprache von Personen, bei denen man eine psychische Krise mit Bezug zu einer psychischen Störung vermutet. Der Workshop zur Implementierung der Mental Health First Aid Ersthelfer*innen kann überall angewendet werden, auch in Betrieben und dauert ca. 2 Stunden.
- Das zweite Modell ist die Betriebliche psychologische Erstbetreuung BpE.
Diese dient dazu, akute Stressreaktionen nach traumatischen Ereignissen im Betrieb zu verringern und ggf. die Weitervermittlung in professionelle psychologische Versorgung sicherzustellen. Eingesetzt werden diese Ersthelfer*innen BpE im Bereich der Überfallprävention/Betreuung von Überfallopfern, Erstbetreuung im ÖPNV, Notfallpsychologie bei Einsatzkräften. Während es für die medizinische Erste Hilfe im Betrieb gesetzliche Vorgaben gibt, haben weder Gesetzgeber noch Unfallversicherung für die psychologische Erstbetreuung Vorschriften oder Regeln festgelegt. Inhalte des Programms sind potenziell traumatisierende Ereignisse, Stress und Belastungsreaktionen, Psychotrauma, Methoden und Techniken der Krisenintervention, Selbstfürsorge, Aufgaben und Grenzen für Laienhelfer*innen. In den „Grundsätzen der Prävention“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung wurden Standards festgelegt für Auswahl und Schulung der Ersthelfer*innen. Die Unfallversicherung beteiligt sich an den Schulungskosten, Supervision bzw. Beratung.
In der Diskussion beider Modelle der Primärprävention wurde die Chance gesehen, psychische Störungen zu entstigmatisieren und sich langfristig professionelle Hilfe zu holen. Der niederschwellige Ansatz der Ansprechbarkeit stärkt das Vertrauen und den Zusammenhalt im Betrieb. Mitarbeitende und Führungskräfte werden geschult im Umgang mit psychischen Erkrankungen.
Kritisch wurde gesehen, dass mit dem Begriff der psychologischen Ersthelfer*innen suggeriert wird, dass es sich hier um eine professionelle Hilfe handelt. Es fehlen bezogen auf Auswahl, Schulung und Qualitätskontrolle Standards und gesetzliche Verankerungen. Bei der Erprobung des Modells war interessant, dass es sich bei vielen psychologischen Ersthelfer*innen um Psycholog*innen, Arbeitspsycholog*innen und Sozialpädagog*innen handelte.
(U.M.)
Workshop zum Thema „Peers at work – Beratung auf Augenhöhe“
In diesem DGUV-Workshop wurde ein Programm innerhalb der Deutschen Bahn vorgestellt, das sich seit 2017 an Mitarbeitende der Deutschen Bahn wendet, die mit den Symptomen einer Depression zu kämpfen haben. Das Besondere an dem Programm besteht darin, dass die Unterstützung direkt von ehemals betroffenen Kolleg*innen, den Peers, ausgeht. Referent*innen waren Knut-Sören Ostermann von der Programmleitung „Peers at work“ und eine Peers-Mitarbeitende, die seit Jahren mit wiederkehrenden Depressionen zu kämpfen hat.
Der Ansatz „Peers at work“ möchte Depression am Arbeitsplatz entstigmatisieren helfen, und einen individuellen Zugang zu persönlicher Hilfe für eine erste Entlastung und Orientierung anbieten. Ostermann: „Mit den Peers geben wir der Erkrankung ein Gesicht, bieten kollegiale Unterstützung an und zeigen, dass trotz oder gerade mit der Depression ein erfülltes und glückliches Leben möglich ist. Über den therapeutischen Fachdienst und geschulte Sozialpädagoginnen und –pädagogen bietet die Stiftungsfamilie schnelle und unkomplizierte Hilfe an. Auch unterstützen wir bei der Suche nach individuellen Lösungen im professionellen Hilfesystem.“
In dem Programm werden die kollegialen Peers, die selbst an Depression erkrankt waren oder es sind, im Rahmen einer Stiftungsfamilie (BSW EWH) fachlich betreut und zusammen mit der Stiftung Deutsche Depressionshilfe geschult. Sie begleiten andere Kolleginnen und Kollegen, die den Eindruck haben, unter depressiver Symptomatik zu leiden und bieten ihnen eine erste Orientierung an. Sie erhalten durch die kollegialen Peers eine schnelle, unkomplizierte und niederschwellige Hilfe - fernab betrieblicher Strukturen. Die Gespräche finden persönlich über das Peer-Telefon, in den Räumlichkeiten der Stiftungsfamilie oder im Park bzw. in einem Café statt. Die Peers sind der Verschwiegenheit verpflichtet und die Gespräche daher streng vertraulich.
Es wird eine kurz-, mittel- und langfristige Perspektive geklärt. Wo stehen wir aktuell ? Wie geht es konkret weiter? Worin besteht das übergeordnete Ziel? Bei individuellem Bedarf wird Betroffenen ein*e BSW-Sozialarbeiter*in zur Seite gestellt, der*die z. B. an eine betriebliche Führungskraft, an eine*n BSW-Therapeut*in oder auch eine BSW-Selbsthilfegruppe weiterleiten kann. Es wird auch im Einzelfall geklärt, ob darüber hinaus eine ärztliche, psychotherapeutische oder klinische Hilfestellung im Rahmen der Regelversorgung erforderlich ist.
Die mit 2017 begonnene Pilotierung befindet sich bundesweit an mehreren Standorten in Deutschland und stellt seit 01.01.2022 eine konzernweite Regelleistung dar. Knapp 50 Peers sind bereits im Einsatz. Es werden auch aktuell weitere Peers gesucht und geschult. Das Projekt versteht sich in enger Verzahnung zu den betrieblichen Strukturen und den relevanten Stakeholdern.
In dem Workshop fand ein reger Austausch mit Teilnehmenden aus verschiedenen psychosozialen und betrieblichen Versorgungsfeldern statt. Zum Schluss wurde an die Teilnehmenden des Workshops appelliert, diese Botschaften in ihrer Region weiterzuleiten:
Sie alle können uns helfen: Sprechen Sie über das Programm
Kontaktieren Sie uns formlos bei Fragen oder Anregungen.
Geben Sie der Erkrankung Depression und dem Programm ein Gesicht - Ihr Gesicht!
(A.K.)
Sekundäre Prävention - Psychotherapie:
Vortrag: Chronische Depression – Umgang am Arbeitsplatz, Behandlung, Rehabilitation, Dr. Simon Mack, Professor für Klinische Psychologie und Coaching, Psychologischer Psychotherapeut
Prof. Simon Mack hielt auf der 6. DGUV einen Vortrag zum Thema chronische Depression - Umgang am Arbeitsplatz, Behandlung, Rehabilitation. Er stellte aus 2020 eine RCT-Pilotstudie vor, die sich aus zwei Interventionsgruppen à 6 Teilnehmenden zu chronischer Depression im Kontext von Arbeitsstress unterteilte. Es nahmen von insgesamt 28 Personen 24 weibl. Teilnehmerinnen mit einem Altersdurchschnitt von 49,8 Jahren teil. Dabei handelt sich um ein 8-wöchtiges spezifisches Therapieangebot in der Gruppe, das sich an den vielfach untersuchten Ansatz der Interpersonellen Psychotherapie (IPT) anlehnt.
Dieses Gruppenprogramm mit spezifischem Fokus auf die interpersonellen Arbeitsplatzstressoren wurde zusammen mit Prof. Elisabeth Schramm am Universitätsklinikum in Freiburg entwickelt und ausgewertet. Hinsichtlich der Wirksamkeit dieses IPT-Gruppenprogramms konnte sowohl die Durchführbarkeit für Patient*innen mit Depressionen als auch in vorläufigen Daten die Effektivität zur Verbesserung der Depressionssymptomatik nachgewiesen werden. Im Zuge des Gruppenangebots lernten die Teilnehmenden ihre persönlichen und arbeitsbezogenen Stressoren und ihren ungünstigen Umgang damit genauer kennen, der bei ihnen zu einer ungesunden Dysbalance geführt hatte.
Unter den Wirksamkeitsfaktoren des Gruppenprogramms sind besonders die verbesserte soziale Kompetenz im Umgang mit zwischenmenschlichen Stressoren am Arbeitsplatz und die Erarbeitung einer verbesserten Einstellung hinsichtlich der Rückkehr in die Arbeitswelt hervorzuheben, indem die Teilnehmenden ihre persönlichen Frühwarnzeichen für eine Arbeitsüberforderung gut kennenlernten und ihnen entgegenwirken konnten.
Sicherlich begrenzt die kleine Stichprobe die Aussagekraft zur Wirksamkeit des Gruppenangebots und macht eine Replikation und Auswertung mit einer größeren Stichprobe wünschenswert.
(A.K.)
Workshop: Sensibilisierungsstrategien für psychische Störungen am Arbeitsplatz, Stefan Leidig, emu-systeme
Vorab muss gesagt werden, dass Dr. Leidig den Workshop eher als Vortrag gestaltet. Er vermittelt sein Wissen zu dem Thema und sein Vorgehen als Inhaber einer Firma, die externe Mitarbeiterunterstützung anbietet. In den 1,5 Stunden vermittelt er viel Wissenswertes und ist offen für Fragen und Diskussionen. Er startete in den ersten Teil seines Workshops mit Zahlen und Fakten zum Sachstand psychischer Störungen im betrieblichen Kontext. Bekanntermaßen gibt es einen Höchststand bei Fehltagen aufgrund von psychischen Erkrankungen.
So meldet beispielsweise die DAK einen Anstieg um 56 % von 2010 bis 2020 und einen Anteil von 17,1 % der 10 wichtigsten Krankheitsarten an den AU-Tagen, nur getoppt von den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Schlüsselt man auf, welche psychischen Erkrankungen die häufigsten Gründe für AU-Tage sind, so sind dies Ängste und Depressionen (CMD – common mental disorders), was nicht weiter verwundert und hinlänglich bekannt sein dürfte. Gleichzeitig betonte er, was oft intuitiv nicht einleuchtet, dass nach wie vor die 12-Monats-Prävalenz nicht nennenswert angestiegen sei. Es bleibe abzuwarten, ob neuere Studien zu einem anderen Ergebnis kommen werden angesichts von Pandemie und Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine.
Zusammenfassend und nach Diskussion der präsentierten Zahlen mit den Teilnehmern zieht er folgenden Schlüsse:
- In den letzten Dekaden gab es keine bedeutsame Zunahme psychischer Störungen.
- Die AU-Tage aufgrund CMD haben sich in den letzten 40 Jahren verfünffacht.
- Störungen des Erlebens und Verhaltens verursachen die längsten Arbeitsunfähigkeitszeiten und sind für die Hälfte aller Frühverrentungen verantwortlich.
- Die Wahrscheinlichkeit, darüber arbeitslos zu werden, ist bis zu viermal höher als bei Gesunden.
- AU aufgrund körperlicher Erkrankungen sind um das Dreifache erhöht, wenn die Betroffenen gleichzeitig die Kriterien für eine psychische Störung erfüllen.
- Immer noch verlieren viele Arbeitnehmer*innen ihre Arbeitsfähigkeit nur deshalb, weil sie falsch, zu spät oder überhaupt nicht behandelt werden.
Im zweiten Teil der Workshops wurden betriebliche und psychologische Problemsichten betrachtet. Psychische Erkrankungen müssen ernst genommen werden, denn die Betriebe haben ein ureigenes Interesse an gesunden Mitarbeiter*innen. Betriebe brauchen praktisch handhabbare und wissenschaftlich fundierte Handlungshilfen, die ihnen dabei helfen, arbeitsbedingte psychische Belastungen zu erkennen und gegebenenfalls passgenaue Maßnahmen zu ergreifen. Dazu ist es wichtig, für Betriebe zu wissen, dass unabhängig von der Stressquelle (privat oder betrieblich), die hauptsächlichen Einschränkungen durch die Beschwerden am Arbeitsplatz erlebt werden, auch wenn Arbeitsbedingungen meist nicht mehr als zehn Prozent zur Varianzaufklärung von Arbeitsunfähigkeitszeiten beitragen. Hier legte Dr. Leidig großen Wert darauf, dass er bei seiner Arbeit in Betrieben immer vermittelt, dass Arbeit an sich nicht psychisch krank macht und dass psychisch erkrankten Mitarbeiter*innen geholfen werden kann, trotz psychischer Krankheit in vielen Fällen arbeitsfähig zu bleiben. Betriebliche Prävention komme daher sowohl primär, sekundär als auch tertiär eine große Bedeutung bei. Dafür müsste insbesondere die Führungsebene sensibilisiert werden. Betriebe müssten auf ihre individuellen Bedingungen zugeschnittene Konzepte der Prävention implementieren. Dazu zählen Einzelstrategien zur primären und tertiären Prävention (Unfallverhütung, Stressmanagement, Suchtprävention, BEM –» Wiedereingliederung), verbindliche Strategien bzgl. F3 und F4 durch Betriebsvereinbarung analog Sucht, Kausale Strategien zur Bewältigung psychisch bedingter Leistungsstörungen, Förderung abteilungsübergreifenden Störungs- und Veränderungswissen und dem Entgegenwirken gegen Tabuisierung und Stigmatisierung, da Menschen mit psychischen Störungen immer noch leicht mit Leistungsverweigerern oder überforderten Mitarbeitenden assoziiert werden.
Der dritte Teil des Workshops war überschrieben mit: Wirksame Maßnahmen - Wer muss wofür sensibilisiert werden? An der Stelle sei es wichtig nach den Interventionsebenen, wirksamer betrieblicher Prävention psychischer Störungen zu unterscheiden. 1. Individuell, 2. Organisatorisch und 3. individuell-organisatorische.
Geeignete Maßnahmen auf individueller Ebene sind Schulungen und Einzelinterventionen zu Stressmanagement, Entspannungstechniken, Zeitmanagement und Bewegungsprogramme. Individuelle Maßnahmen können auch vertrauensvolle Gespräche mit Führungskräften und oder anderen Einrichtungen innerhalb des Unternehmens (Betriebsrat, Betriebsärzt*in etc.) sein oder auch das Wahrnehmen vom Unternehmen angebotener externer Unterstützungsmöglichkeiten wie ein Employee Assists Program (EAP).
Geeignete Maßnahmen organisatorischer Art durch Verbesserung der organisatorischen, sozialen und technischen Bedingungen können sein: Entwicklung unterstützender Strukturen auf organisatorischer Ebene. Dies müssen beständige Angebote sein (z. B. regelmäßige Gesundheitskurse), um Nachhaltigkeit zu sichern, oder Maßnahmen der Umstrukturierung der Arbeit.
Auf der individuell-organisatorische Ebene sollten individuelle und organisatorische Stressinterventionen kombiniert werden, da dies am wirksamsten sei. Verstetigung präventiver Strategien und Partizipation an Entscheidungsprozessen ist notwendig. Stressmanagement ohne Beeinflussung der Stressoren (z. B. Führungsstil, Betriebsklima) wirkt nur begrenzt. Umfassende, interaktive Maßnahmen sind wirksamer als individuelle.
Immer wieder betonte Herr Leidig, wie wichtig es sei, Führungskräfte und Organisationen psychologisch/psychotherapeutisch zu schulen. Insbesondere auch wie wichtig dabei kognitiv-verhaltenstherapeutisches Wissen derer sei, die diese Gruppe schulen, damit Führungskräfte in die Lage versetzt würden, betroffene Mitarbeiter*innen frühzeitig und streng vertraulich ansprechen zu können, geeignete Maßnahmen anbieten zu können und Wissen darüber zu haben, wohin sie Betroffene gegebenenfalls „überweisen“ können.
Wirksame Maßnahmen können durch psychotherapeutisches Wissen gefördert werden. Hier empfiehlt Dr. Leidig, dass sich mehr Psychotherapeut*innen mit ihrer Kompetenz einbringen, da er ein Defizit diesbezüglich bei Betriebsärzt*innen und Betrieben sehe. Psychotherapeutische Aufgaben bei der Prävention von psychischen Störungen in Organisationen könnten folgende sein:
- Beratungskompetenz vermitteln (Moderation für FK, MA und alle Gesundheitsdienste)
- Diagnostische Sicherheit/Therapeutische Erstversorgung/Casemanagement
- Methodenkompetenz zur Entwicklung spezifischer Trainings/Interventionen
- Unternehmensberatung zur Einführung von Standards (FK-Beratung, BR-Schulungen...) mit Einfluss auf die Betriebskultur
Das Fazit mit dem Herr Leidig seinen Vortrag beschließt, ist, dass die Prävention psychischer Störungen mit der Enttabuisierung psychotherapeutischer Leistungen für Betriebe einhergehen muss.
(S.C.)
Tertiäre Prävention – Reha und Betriebliche Wiedereingliederung:
Vortrag: Betriebliche Wiedereingliederung von Beschäftigten mit Depressionen, Dr. Uta Wegewitz und Ute B. Schröder, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA
Im Vortrag von Fr. Wegewitz und Fr. Schröder am 2. Tag der Fachtagung ging es um Maßnahmen der tertiären Prävention bei der betrieblichen Wiedereingliederung. Sie stellten ihrem Vortrag einführend voran, dass der Wiedereingliederung nach psychischer Erkrankung hohe individuelle, betriebliche und sozialpolitische Bedeutung zukomme. Hierbei sähen sie einen Nachholbedarf bei der Umsetzung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM).
Der Vortrag befasste sich mit:
- Einflussfaktoren auf die Rückkehr zur Arbeit
- Vernetzung im Return to Work-Prozess (RTW)
- Vier-Phasen-Modell zur Wiedereingliederung
- Herausforderungen Schnittstellenarbeit
- Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Zu 1. Günstige Prädiktoren für eine frühzeitige Rückkehr und Wiedereingliederung seien krankheitsbezogen eine niedrige Symptomschwere, wenig Komorbiditäten, geringe vorherige AU-Zeiten und eine bessere selbstberichtete Gesundheit. Arbeitsbezogen komme es auf eine gute Unterstützung durch Führungskräfte und Kolleg*innen und ein gutes Arbeitsklima an. Bezogen auf die Person spielt das Alter eine Rolle sowie die Selbstwirksamkeitserwartung und eine positive Erwartung an die Rückkehr zur Arbeit. Als förderliche Faktoren einer nachhaltigen Wiedereingliederung benennen die Vortragenden die soziale Unterstützung im Betrieb, Feedbackgespräche, die Möglichkeit, sich als selbstwirksam zu erleben, ein gezieltes betriebliches Eingliederungsmanagement, Maßnahmen wie z. B. eine stufenweise Wiedereingliederung, Coaching-Angebote, organisationale Ressourcenorientierung sowie interne und externe Vernetzung.
Zu 2. Betont wird von Fr. W und Fr. Sch., dass ein vernetzter Return-to-Work-Prozess vorteilhaft sei. Damit sei gemeint, dass es hilfreich sei, wenn die üblichen Akteur*innen im Wiedereingliederungsprozess – die Betroffenen, Führungskraft, Betriebsrat, Personalabteilung, Betriebsärzt*in und mögliche externe Anbieter*innen – gekoppelt und vernetzt seien. Dabei seien zwei Formen von Vernetzung und Kopplung denkbar. Ein individuumsbezogener Selbstmanagementansatz, bei dem Vernetzung möglich ist, aber stärker den Betroffenen überlassen wird. Der andere Ansatz ist ein systemischer, bei dem externe Dritte die Betroffenen beraten und begleiten mit Fokus auch auf betriebliche Passung der verschiedenen Maßnahmen.
Zu 3. Auf Basis zweier von der BAuA durchgeführter qualitativer Studien schlagen die Vortragenden ein 4-Phasen-Modell (Ko-orientierung, Koordinierung, Kooperation und erneute Ko-orientierung) zur Wiedereingliederung vor.
- Ziel der Phase 1 ist eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, die Ausgangssituation zu verstehen und eine angemessene RTW-Strategie zu entwickeln. Dabei erfolgen vertrauliche 4- bzw. 6-Augengespräche. Die beteiligten Akteur*innen sind die Zurückkehrenden und RTW-Experten z. B. BEM-Beauftragte, betriebliche Interessenvertretungen, Betriebsärzt*innen.
- Ziel der Phase 2 ist es, in einem gemeinsamen Suchprozess zu einer Verständigung über die geeigneten Maßnahmen zu gelangen also den Rückkehrprozess gut zu planen. Zu den in Phase 1 genannten Akteuren kann es sinnvoll sein, weitere Akteure wie Therapeuten, Ärzte, RV, DGUV, KK, Integrationsfachdienste hinzuzuziehen. Methoden, die zum Einsatz kommen sollten, sind regelmäßige Betriebs- u BEM-Gespräche, die gezielte Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, Klärung betrieblicher Maßnahmen und das Erstellen eines Wiedereingliederungsplan (STWE).
- In Phase 3 steht die gut koordinierte und unterstützte Rückkehr im Zentrum. Hier legen die Studien nahe, dass das Hinzuziehen externer RTW-Coaches sinnvoll sei, um offenen und ehrlichen Umgang im Team und Raum und Zeit für Verhaltensänderungen zu ermöglichen. Außerdem gehe es in dieser Phase auch darum, gut darauf zu achten, dass die Passung individueller, sozialer und betrieblicher Maßnahmen gegeben ist. Externe Beteiligte könnten auch einen wichtigen Beitrag dabei leisten, die STWE und Feedbackgespräche durch Coaching zu begleiten, damit Vorgesetzte Unterstützung bekämen, ihren Rückkehrenden mit Empathie und Flexibilität zu begegnen.
- Phase 4 dient der Festigung des Erreichten. Hier spiele es eine wichtige Rolle, Belastungsgrenzen einzuhalten, einen achtsamen Umgang mit herausfordernden Arbeitsbedingungen und Ressourcen zu üben, eine Balance zwischen Arbeits- und Privatleben herzustellen und kritische Symptome frühzeitig erkennen. Es wird betont, dass gerade in dieser Phase der Einsatz von Therapeut*innen und Selbsthilfegruppen von wichtiger Bedeutung sei und entscheidende Vorteile für das Gelingen des RTW bringe.
Zu 4. Herausforderungen für die Schnittstellenarbeit sind bei der Zusammenarbeit der Akteur*innen, bei den betrieblichen Expert*innen und bei den medizinisch-therapeutischen Expert*innen zu sehen. Ein intensiver, vernetzter Austausch zwischen Zurückkehrenden, betrieblichen und medizinisch-therapeutischen Expert*innen unter Einbeziehung von Interessenvertretungen und Vorgesetzten sei schon per se herausfordernd. Will man dann noch betriebsfremde Akteur*innen dazu holen, erfordere dies von allen Seiten ein besonderes Engagement bzw. klare betriebliche Vereinbarungen im Unternehmen. Seitens von Betriebsärzt*innen erfordere es die Bereitschaft für eine Scharnierfunktion und ein Zugehen auf die externen medizinisch-therapeutischen Expert*innen sowie eine gute Absprache bzw. kurze Wege. Externen Expert*innen wiederum fehle oft das Wissen um die betrieblichen Kontextfaktoren. Sie müssten sensibilisiert werden für die Lösung arbeitsbezogener Belastungen und dafür, ihre therapeutischen Interventionen auf den Arbeitsplatzbezug zu zuschneiden.
Zu 5. Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Grundsätzlich müssen Individualität und Komplexität von Erkrankung und Rückkehr (an-)erkannt werden und individuelle und betriebliche (An-)Passung der Maßnahmen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer bedarfsorientierten Verschränkung betrieblicher und medizinisch-therapeutischer Maßnahmen mit arbeitsplatz- und individuumbezogenen Maßnahmen. Eine große Bedeutung komme einem professionellen BEM und einer therapeutisch orientierten STWE sowie einer Einbettung in ein (über-)betriebliches Gesundheitsmanagement zu. Alles unter der Prämisse einer guten und gelungenen Vernetzung von betrieblichen Akteur*innen und behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen. Empfohlen werde die Möglichkeit, bei Bedarf einen externen (unabhängigen) Dritten als Case und Care Manager zu beauftragen, die konsequente Berücksichtigung der Themen Arbeit und Wiedereingliederung in der medizinisch-therapeutischen Versorgung und die Förderung betrieblicher Unterstützungsangebote.
Der Vortrag fand reges Interesse. In der anschließenden Diskussion wurde kritisch angemerkt, dass die Empfehlung, externe medizinisch-therapeutische Expert*innen hinzuzuziehen, zwar sinnvoll, aber kaum umsetzbar sei. Die Vortragenden konnten leider dazu auch keine praktischen Vorschläge machen, wer diese konkret sein könnten und wer deren Arbeit bezahlen könne. Jedenfalls gebe es dafür keine strukturierten allgemeinen Regelungen und es sei abhängig von den jeweiligen Unternehmen, dafür geeignete Partner*innen zu finden. Betriebsärzt*innen beispielsweise könnten Aufträge an Psychotherapeut*innen delegieren. Unternehmen könnten Verträge mit entsprechenden Expert*innen abschließen. Hier wurde kritisch gesehen, dass die vorhandenen Leistungserbringer*innen und Leistungsträger*innen nur im Rahmen der Regelversorgung agieren könnten, die Programme der Return-to-Work-Prozesse nicht beinhalten.
(S.C.)